Verschiedene: Die Gartenlaube (1870) | |
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Auch die Schafe blöken hier in Heerden,
Umhüpft von den Kühen und munteren Pferden.
Die Jugend wächst auf hier in blühender Gesundheit,
Zum Kampf für das Land und den König hereit.
Hier drängen sich ein die Litthauer und Sachsen,
Denn wahrlich, hier ist eine andere Welt!“
So sangen sie und drückten sich aneinander, um sich zu wärmen und tranken Schnaps zu schimmligen Wrucken. Die Kühe die so munter auf den Wiesen springen sollten, lagen entkräftet bei ihnen in der Schaluppe und übertönten mit ihrem Hungergebrüll den Lobgesang, denn das Gras war auf den Wiesen in der Nässe schwarz gefault, und Heu kommen zu lassen, dazu fehlte es an Geld. Das Schlachtmesser war der letzte Wohltäter des armen abgemagerten Viehes. Noch wenig Tage und das elende Futter war zu Eude, die treuen Hausgenossen mußten fallen.
Wo waren die Schafheerden, von denen das Lied sang? Sie waren auf den nassen Weiden dem Lungenwurm erlegen.
Wo waren die Betten, welche die Gänse den Frierenden liefern sollten? Von Haus zu Haus nur Stroh und Spreu und Lumpen zum Bedecken.
Die Fische in den Seen konnten nicht gefangen werden, denn es war gefährlich, auf den angeschwollenen Wassern zu schiffen; das Wild in den Wäldern gehörte der Herrschaft, und der schöne Kalkstein in den „Bergen“ baute den Armen keine Häuser.
Die „blühende Jugend“ hatte schwarze Ringe um die Augen, blaue Lippen und eine fahlgelbe Haut. Der ausgehungerte Körper setzte giftige Säfte an. Fiebermiasmen, dem Sumpf entstiegen, in den die Erde rings verwandelt war, schüttelte die morschen Glieder. Noch wenige Wochen und die Lieder vom „schönsten Lande der Welt“ verstummten. Die letzten Mittel waren verbraucht, die knochige Kuh geschlachtet und verzehrt. Das Faß mit Sauerkohl, das nach dortiger Sitte an dem Kopfende des Bettes gohr, war leer.
„Wovon sollen wir nun leben, was sollen wir essen?“ fragten die hohläugigen Gesichter, und das Schicksal blieb ihnen die Antwort schuldig. Die Kälte kam, die bittere Kälte, und die Lumpen, die seit Monaten hundert Mal naß geworden und wieder getrocknet und wieder naß geworden waren, bis sie den Menschen vom Leibe fielen - sie schützten nicht vor dem Erfrieren. So verkrochen sie sich in die niedrigen Lehmhütten in das modrige Stroh, zehn, zwölf in einer Stube bei einander. Das einzige kleine Fenster, nur ein Loch mit einem Stückchen Glas bedeckt, ward vernagelt und die Thür verstopft, damit es warm blieb, denn der Torf war in der Nässe auch verfault und die Wälder gehörten dem König. Da war keine Heizung als der Branntwein und die Fiebergluth der Typhuskranken. Um und in das dunstige Bett solch eines Unglücklichen drängte sich Alles und wer durfte, der schmiegte sich an ihn, um sich zu wärmen an dem lebendigen, Gift ausströmenden Ofen. Wer sich noch schleppen konnte, der schlich zähneklappernd aus der warmen Brutstätte des Ungeziefers und Siechthums hinaus zum Kruge, um für die Andern Schnaps zu holen, und so schnell als möglich kroch er wieder hinein. Dann ward getrunken so lange, bis das Bewußtsein erlosch. Den Kranken schoß die Gluth des Fiebers, durch das Alkohol zum Brand angefacht, aus allen Poren und bedeckte Gesicht und Körper mit rothen brandigen Flecken, und die Gesunden, stumpf, blödsinnig vor Schwäche und Trunkenheit; sanken hin auf die schlammige schlüpferige Erde der ungedielten Hütten, müde des Kampfes um ein Dasein, welches keines Kampfes mehr werth war, die Waffen streckend, mit denen sie sich um ihr bischen Menschenthum gewehrt. Zwischen Leben und Sterben, zwischen Wachen und Schlafen dämmerten sie hin im Zwielicht ihrer dumpfigen Schaluppen. Dicht und dichter wallte der Schnee herab und verschüttete vollends die Stätten lebendiger Verwesung!
Und dies war noch nicht das Aergste, was die Natur an Gräueln schaffen kann, um dem Menschen den Untergang zu bereiten. - Hier in den Dörfern war das Elend doch noch über der Erde, aber es gab ein Elend unter der Erde, dem Nichts gleichkam. Draußen in den unbewohnten Gegenden, wo die Eisenbahn von Rastenburg nach Lyk gebaut wurde; da lebte ein Geschlecht des Entsetzens, wie die Erde wohl kein zweites aufzuweisen hatte. Es waren die „Losleute“, welche an der Bahn beschäftigt wurden; um sie, die im Winter schlechter daran waren als die Raben auf dem Felde, vor dem Hungertod zu schützen. Doch es gelang nur schlecht. Denn dieser Abhub der Menschennatur war so dem Trunke ergeben, daß er den Lohn, mit dem er Weib und Kind ernähren sollte, zur Hälfte vertrank. Licht, Luft und Reinlichkeit, die Bedürfnisse höher organisirter Wesen, existirten nicht für diese elenden Geschöpfe. Maulwürfen gleich hatten sie sich längs der Bahnstrecke in die Erde eingegraben. In Gruben unter dem Boden, nur von Fichtenstämmchen gestützt und bedeckt, hausten sie mit Weib und Kind, und Fuß hoch lastete der Schnee auf den Dächern, die sich nur handbreit über die Oberfläche erhoben. Wer, unkundig der Verhältnisse, an einem Sonntagmorgen, wo die Arbeiter in ihren Schlupfwinkeln versteckt ausruhten, über die beschneite Haide ging, der mochte wohl denken, er stehe auf einem unterirdischen Gnomenreich oder auf einem von kleinen Vulcanen untergrabenen Boden; denn so weit das Auge auf der öden Fläche reichte, ringelten sich aus niedrigen Schneehügeln kleine Rauchsäulen empor. Ein rauchendes Schneefeld, auf dem auch nicht die Spur eines lebendigen Wesens zu sehen, war wohl ein seltsames Bild. Doch wenn der erstaunte Fremde näher kam, sah er, daß der Dampf einer unterirdischen Esse entquoll, und gelang es ihm, unter dem Schnee die Stufen zu finden, welche in die räthselhafte Höhle hinabführten, dann wehe ihm, denn er schaute, was die Götter dem bevorzugten Sohne der Civilisation gnädig bedecken mit Nacht und Grauen.
In einem Raum, fast zu niedrig zum Stehen, fast zu kurz zum Liegen, kauerte eine halbnackte Familie um das Feuer, an dem als Sonntagsgericht saure Rüben kochten, der einzige warme Bissen der ganzen Woche. Dies Feuer war zugleich das einzige Licht, doch es war immer am Verlöschen, denn es hatte zu wenig Luft in der engen Grube; wo von allen Seiten das Wasser herabsickerte. Aber wo das Feuer fast erstickte, da mußten fünf, sechs, sieben Lungen athmen. Ein Pesthauch strömte dem Eintretenden entgegen; denn alle Dünste, welche die feuchte Erde, die verfaulten Kleider und die kranken Körper ausströmten, blieben in dem hermetisch verschlossenen Raume zusammengeballt. Krüppelhafte, thierisch scheue Kinder verkrochen sich vor dem Fremden; und der Vater, der Ernährer des Hauses, kam ihm entgegen mit stierem Blick, gedunsener farbloser Haut; wie ein Leichnam, der lange im Wasser gelegen. In der Ecke auf dem einzigen Strohlager der Familie schrie ein Säugling neben der Leiche der Mutter und suchte vergebens an der erstarrten Brust nach Nahrung. Sie lag noch seit gestern, wie sie gestorben; man war zu stumpf, sie wegzuräumen. Hierzu war es noch lange Zeit; wenn man gegessen hatte. - Den Säugling, der noch zu klein war, um die Milch entbehren zu können, ließ man eben schreien, bis er todt war. So vergrub sich hier das Entsetzlichste unter der weißen dichten Schneedecke. Hier war der Mensch buchstäblich zum Gewürm geworden, das seinen ekeln Anblick in der Tiefe verbirgt. Als aber der eigentliche harte Winter kam, die Erde zu Stein fror und die Arbeiten großentheils eingestellt werden mußten, da spieen diese Gräber der Lebendigen ihren scheußlichen Inhalt aus und verbreiteten ihn über die ganze Gegend.
In Rotten oder einzeln ergossen sich die entlassenen typhuskranken aussätzigen Arbeiter über das hungernde Land und bettelten um Obdach und Brod; den Gifthauch ihrer moralischen und physischen Fäulniß weithin verschleppend und rings um sich her die Luft verpestend, daß kein Mensch in ihrer Nähe aushalten konnte, daß man sie auf ganze Strecken roch. Wer in ihren Dunstkreis kam, den erfaßte die rothfleckige Seuche, die sie in ihren feuchten Gräbern unter dem Schnee ausgebrütet hatten. Was lebte, das floh vor diesen wandelnden Leichen, und wo ein Wirth schwach genug gewesen, sie aufzunehmen; da stand gar bald der ganze Krug verödet; denn die Gäste mieden ihn, und alle seine Bewohner erlagen der todbringenden Berührung.
Als Alfred auf die Nachricht dieses Elends herbeieilte, erkannte er, daß zwei Schrecknisse sich mit teuflischer Wuth über das arme Land geworfen, gegen die der Einzelne machtlos war, denn wer dem Mangel nicht zum Opfer fiel, den würgte die Seuche hin! Und wieder stemmte sich der eine Mann mit unbeugsamem Muth gegen die unsichtbaren Feinde.
Er berief den Kreistag zusammen und setzte es durch, daß ein Capital zusammengeschossen wurde, wovon Lazarethe und Suppenanstalten gegründet wurden. Alfred selbst errichtete deren mehrere auf seinen Gütern und erließ alle nöthigen polizeilichen Verordnungen gegen das Betteln und Vagabundiren, um die weitere
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 848. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_848.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)