Verschiedene: Die Gartenlaube (1870) | |
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Still und bescheiden, wie sie gekommen war, zog sie sich wieder zurück. Er sah ihr schmerzlich nach; dann besann er sich, überlas den Brief noch einmal und – zerriß ihn. Das war kein Brief für fremde Augen wie die des Doctors Zimmermann. Alfred konnte ihn wohl schreiben, aber nicht absenden! Er ging zu seiner Mutter, setzte sich zu ihren Füßen nieder und plauderte mit ihr von der Kindheit selbst wie ein Kind. Es war eine stille glückliche Stunde des Ausruhens, wie sie ihnen selten so ungestört zu Theil ward, denn Tante Lilly war heute einmal bei einer siebenzigjährigen Jugendgespielin zu einer Whistpartie geladen. Als die rothen Strahlen der Abendsonne hereinfielen und Adelheid’s ergrauten dünngewordenen Scheitel mit dem Golde früherer Tage anhauchten, stand er auf, küßte sie auf die bleiche Stirn, und er war wieder der klare entschlossene Mann, der treulich seiner Pflichterfüllung nachging.
Er hatte eine Schrift über die Zustände in Masuren wo seine Güter lagen, aufgesetzt, eine gründliche Darlegung der Nothwendigkeit eines Eisenbahnbaues von K… bis an die russisch-polnische Grenze, um eine lebendige Verkehrsader zwischen dieser abgelegenen Provinz und dem Lande zu schaffen. Diese Schrift sollte er noch am selben Abend dem Könige überreichen, und da die Stunde der Audienz geschlagen hatte, ging er, sich anzukleiden. Da brachte ihm der Diener eine Kiste, die von der Post gekommen, sie war aus Zürich. Eilig erbrach er sie und fand ein Bild, – Alfred sank überwältigt in die Kniee! Hatten die dämmernden Gestalten der Erinnerung, die er vorhin heraufbeschworen, Farbe gewonnen. Es war das Bild Anna’s, ein lebensgroßer Studienkopf. Roh in der Technik, aber von einer zauberhaften Aehnlichkeit, schien das Gemälde zu leben. Das waren Aenny’s braune, bald lachende, bald träumerischen Augen, nach denen er sich noch eben so sehr gesehnt; das war der frische schwellende Mund, der noch nie eine Unwahrheit gesagt, er schien zu reden, zu athmen. Das war das schalkhafte schweizerische Grübchen in Wange und Kinn, das dem rosigen Gesicht etwas so Muthwilliges gab, und doch war über dem Ganzen ein Hauch unbewußter Schwermuth ausgegossen; es war in der geneigten Haltung des Kopfes etwas, das an eine Rose erinnerte, die den vollen Kelch unter dem Drucke des Föhn niedersenkt. Was war es für ein heißer Sturm, der dies stolze Mädchenhaupt beugte?
Alfred schaute und schaute; trunken vor Freude, und die Leidenschaft, die lange zurückgedrängte, strömte über. Er drückte seine Lippen auf das Bild; er rief laut Anna’s Namen, er war außer sich. Da trat Adelheid unter die Thür.
„Mutter,“ rief er. „Mutter, Anna Hösli hat mir ihr Bild geschickt; Mutter, was sagst Du dazu?“
Adelheid schüttelte ungläubig den Kopf. „Das sieht Anna Hösli nicht ähnlich!“
„Wie, Du findest es nicht ähnlich?“
„Das Bild schon, aber nicht, daß sie es Dir schickte,“ sagte Adelheid bedächtig. „Die Freude verblendet Dich, mein Sohn. Ist denn kein Frachtbrief dabei, aus dem man den Absender entnehmen könnte?“
Sie schaute sich um und fand das Gesuchte am Boden. „Sieh, wie unachtsam Du bist; da haben wir ja die Lösung des Räthsels; schau her, hier ist ein Brief von Deinem Schützling Joseph, – er hat das Bild gemalt!“
Alfred ließ entgeistert die Arme sinken und starrte auf das beschriebene Blatt, welches in den Frachtbrief eingeschlossen war. „Du hast Recht – ich war ein Thor!“ sagte er leise und entfaltete den Brief. Er lautete:
„Geehrter Herr Baron!
Es ist nun schon ein Jahr her, daß Sie mich auf die Malerschule gethan haben. Sie müssen doch auch endlich wissen, daß ich was gelernt habe. Es ist mir neulich gelungen, ein Bild zu malen, welches die Leute besonders ähnlich finden, und da bin ich so frei, Ihnen eine Copie davon zu schicken. Sie kennen doch das Fräulein Hösli; Sie waren ja Nachbarskinder zusammen, und da werden Sie am besten beurtheilen können, ob sie getroffen ist.
Ich bitte Sie auch, lieber Herr Baron, schicken Sie kein Geld mehr für mich. Seit dem Bilde von Fräulein Anna weiß ich gar nicht, wo anfangen vor lauter Bestellungen, und ich kann mir jetzt mein Brod selbst verdienen. Ich weiß wohl, ich hätte noch viel zu lernen, um ein rechter Maler zu werden; aber so etwas darf ich mir ja nicht träumen lassen. Es ist mir ohnehin über alle Maßen gut gegangen, denn mein höchster Stolz war nur Schildermaler und nun bin ich schon Kunstmaler und man vertraut mir gar Portraits an.
Und nun danke ich dem Herrn Baron noch vielmals für alles Gute, womit ich bleibe.
Joseph Nägeli.
Nachschrift. Meine Nase hält sich besser, als Sie selbst glaubten; sie ist noch gar nicht zusammengeschrumpft.“
Als Alfred seiner Mutter den Brief vorgelesen, war er wieder
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 829. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_829.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)