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Seite:Die Gartenlaube (1870) 828.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

nun seit fast einem Jahr nicht wiedergesehen, und die sich nach ihm sehnte. Es war der letzte große Schmerz, der sein Herz traf, als er sie auf der Bahn abholte und drei Mal vergebens die Wagenreihe auf und ab lief, ohne seine Mutter finden zu können, bis ihm endlich eine gebückte hagere Frau mit tief eingesunkenen Augenhöhlen und vortretenden Backenknochen in die Arme sank und keuchte: „Alfred, erkennst Du Deine Mutter nicht mehr?“

Nun wußte er, daß das Leben seiner Mutter vielleicht nur noch nach Monden zählte. Und als sie ihn im Verlauf ihres Zusammenseins bat, sie mit nach B. zu nehmen, damit sie bei ihm sterben könne, da konnte er ihr es nicht mehr abschlagen – er wußte, daß diese rasch fortschreitende Auflösung kein Klima mehr zurückhalten würde, warum sollte er ihr den einzigen letzten Trost versagen, den, in der Nähe des Sohnes zu sein? - So brachte er sie nach Abschluß der Convention von Genf mit nach Hause. Auch die immer gleiche Tante Lilly folgte ihnen und er richtete ihnen schnell eine behagliche Häuslichkeit in B. ein, da die siechende Frau nicht das rauhe Klima seiner Güter ertragen und ihr noch außerdem die Schwestern Bella und Wika die letzten Tage ihres Daseins verbittert hätten. – Aber noch ein anderer Grund war es, weshalb er Adelheid um jeden Preis von dort fern halten wollte. Er hatte ihr den Tod Feldheim’s verschwiegen, weil er den erschütternden Eindruck dieser Nachricht für sie fürchtete, und doch hätte sie ihn unvermeidlich erfahren. Er wollte die mit soviel Umsicht und Vorsorge durchgeführte Maßregel jetzt nicht preisgeben, wo ihr Zustand größerer Schonung als je bedurfte.

Ohne es zu wollen, kam Alfred von nun an in immer nähere Beziehungen zum Hofe und zur Gesellschaft, denn er konnte sich den wiederholten Einladungen des Königs und der Königin nicht entziehen, und so zog allmählich das Leben den ernsten Mann in seine „heitern Kreise“, wenn auch nicht als mitgenießenden, so doch als teilnehmenden Beobachter.

Auch in seinem ärztlichen Beruf fand er immer neue Gelegenheit sich auszuzeichnen. Er kam, wie man zu sagen pflegt, in die Mode. Eine feste Praxis lehnte er jedoch entschieden ab, da ihn die Umgestaltung seiner Güter noch zu sehr in Anspruch nahm und zu oft von der Residenz entfernte, und so wurde er am Anfang seiner Laufbahn schon, was Andere oft erst zuletzt werden: consultirender Arzt. Das Einzige, was die vornehme Welt verletzte, war, daß er Honarar nahm! Ein Herr von Salten, ein so hochstehender, ein so poetischer Mann – ließ sich für seinen Rath bezahlen wie ein gewöhnlicher Arzt! Es war unerhört! Die zarten Seelen wurde für ihn schamroth, wenn sie ihm das Geld für eine Consultation schickten. Natürlich mußte ein so vornehmer Arzt, wenn er einmal Geld nahm, auch vornehm bezahlt werden. Man sandte ihm nur Gold, die einzige „anständige“ Bezahlungsart, und Alfred verdiente sich in kurzer Zeit bedeutende Summen.

Besonders groß war der Eindruck, den er auf die Frauen machte. Wie übrigens Alfred hierüber dachte, geht aus folgenden Zeilen hervor, die er eines Tages an Zimmermann nach Zürich schrieb: „Wenn ein junger Arzt zum Charlatan wird, so sind es nur die Frauen, die ihn dazu machen. Es gehört ein gewisser Grad von Charakterfestigkeit dazu, um die interessante Rolle abzulehnen, welche die überreizte Phantasie nervöser Damen dem Arzte zutheilt. Naturen, welche zur Eitelkeit neigen, werden nur schwer der Versuchung widerstehen, auf so wohlfeile Art den Wunderthäter zu spielen. Mediciner, die gar unter dem Druck der Nahrungssorge stehen und um ihr Stückchen Brod arbeiten, müssen Helden sein, um den Muth zu haben, sich durch andere Erfolge eine Praxis zu machen, als die, welche ihnen die Einbildungskraft und Unterhaltungsbedürftigkeit nervöser Frauen sichert. Gott sei Dank, mich kosten diese Versuchungen keinen Kampf, weil es eine Eigenthümlichkeit meines Wesens ist, daß mich jede Unnatur im tiefsten Grunde anwidert; nie wird sie mir andere Zugeständnisse abzwingen, als die, welche mir die Gebote der Höflichkeit und Ritterlichkeit einer Dame gegenüber vorschreiben, denn grob und barsch werde ich gegen ein Weib niemals sein. Ich kann es Dir nicht sagen, wie mich unter diesen Verhältnissen oft das Heimweh nach Zürich ergreift und die Sehnsucht nach Aenny! Das heißt nach der Aenny, welche ich liebte, bevor Victor zwischen uns trat! Ach, das war eine kerngesunde Natur, wahr und frisch durch und durch, so voll echten Mädchenstolzes, so unberührt und wunschlos. Nur zu solch einem Wesen kann Der flüchten, dessen Tage Jahr ein Jahr aus im Verkehr mit kranken oder doch krankhaften Geschöpfen verlaufen, nur bei solch einem Wesen ist Erholung von all’ den traurigen Eindrücken, die den Arzt herabstimmen. Nicht in den Genüssen der Gesellschaft ist sie, nicht im Salon, wo mich Mädchen und Frauen, die ich am Morgen noch bleich, reizlos und hinfällig gesehen, geschminkt, geputzt und künstlich verjüngt umflattern, mit fieberhaft glänzenden Augen, angehaucht von der Aufregung des Tanzens, Spielens oder Gefallenwollens, die den Unglücklichen für wenige Stunden den trügerischen Schimmer gesunder Lebenskraft verleiht.


Ich sehe Frauen strahlend schön auftauchen in voller Heiterkeit von Bewunderern umringt, die mich noch am Morgen in bleicher Todesangst fragten, ob ihnen nicht ein unheilbares Uebel drohe, und ich weiß auch, daß es schon heimlich die schöne Hülle benagt. Ich sehe Mädchen, deren Blut verborgener Liebe Kummer trank, die mich kurz zuvor bleichsüchtig fröstelnd, wie Sterbende um ein belebendes Mittel baten, nach einer genossenen Gabe Chinin und Eisen mit glühenden Wangen und feurigen Blicken durch die Säle schweben und im Rausche neuer Hoffnungen die Zuhörer durch ihre übersprudelnde Laune bezaubern! – Und ich frage mich, wo ist da noch Wahrheit, an was kann ich noch glauben, wenn die Kunst solche Siege feiert? Kranke lügen sich gesund und Gesunde krank, je nach Gefallen! Ich werde vielleicht ungerecht und gehe zu weit, ich weiß es; aber ich kann mir, seit ich Arzt bin, unter all’ diesen schimmernden Hüllen nichts mehr denken als verborgene Krankheiten des Leibes und der Seele – und mich verlangt mit aller Kraft nach einem frischen Athemzug von Anna’s blühenden Lippen, nach einem Blick in ihre offenen ehrlichen Augen, nach dem vollen hellen Klang ihrer fröhlichen Stimme, die noch keine Unwahrheit gesprochen, so lange sie lebt. Und wenn ich sie mir so denke auf dem weiten See, mit den starke Armen die Ruder rührend oder unter den alten Kastanien in einem Buche lesend, überrieselt von dem süßen sinnigen Staunen, mit dem sie ein schönes Dichterwort in sich aufzunehmen pflegte, so unbewußt der keimenden Vollgewalt ihres Wesens und ihrer Schönheit, dann meine ich, das Herz müsse mir zerspringen vor Lust und Schmerz!

Und wenn ich denke, daß ich von Kindheit an mit demüthiger geduldiger Liebe diese Blüthe sich entfalten sah und daß in dem Augenblick, wo sie sich erschließt, eine andre Hand sie pflückt, nur um sie achtlos wieder hinzuwerfen – dann möchte ich, wir wären Beide gestorben inmitten des süßen Kindertraums, den keine Wirklichkeit mir mehr ersetzen kann, und eine namenlose Sehnsucht faßt mich nach jenem verlorenen Paradies am Ufer des glitzernden Sees, am Fuße der schneegekrönten Gebirge, an der Seite des spielenden Mädchens unter Blumen und Bäumen! O du thauiges Ufer mit deinen rauschenden Wipfeln, deinem wogenden Schilfe und deinen duftigen Firnen, du bist mir versunken und ich kranke am Heimweh nach dir!“

Er stützte den Kopf auf die Hand und ließ die Feder ruhen. Lange, lange hatte er gegen solche Empfindungen gekämpft, jetzt auf einmal brachen sie mit ihrer ganzen Macht hervor, und er überließ sich ihnen auf einen Augenblick widerstandslos. Da nahte ein leiser Schritt auf dem weichen Teppich, und ein Arm umschlang liebevoll tröstend sein gebeugtes Haupt. Es war seine Mutter, die sich aus dem Nebenzimmer herangeschlichen hatte, weil sie mit dem scharfen Ohr der Liebe gehört, daß Alfred schwer und tief athmete.

„Mein Sohn,“ sagte sie schüchtern und streichelte mit der schmalen durchsichtigen Hand sein reiches Haar, „fehlt Dir etwas?“

Adelheid legte ihre beiden Arme zärtlich um seinen Hals wie eine Kette; sie waren so abgemagert, diese einst so schönen Arme, und so leicht, als sei kein Mark mehr in den fleischlosen Knochenröhren; eine unaussprechliche Trauer überkam Alfred bei ihrer Berührung, aber es waren doch noch die Arme einer Mutter, einer büßenden sterbenden Mutter, und er zog sie fest an sich, legte sanft den Kopf an ihr Herz und flüsterte mit erstickten Thränen: „Gute Mutter!“

„Du leidest, mein Sohn, ich ängstige mich um Dich!“

„Ich schreibe nach Zürich und da ergriff mich das Heimweh!“

„Du Armer, das ist das Schweizerheimweh, von dem ich so oft gehört!“

„Ja, Mutter, ich habe das Schweizerheimweh!“ wiederholte Alfred leise und küßte Adelheid’s Hände.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 828. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_828.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)