Verschiedene: Die Gartenlaube (1870) | |
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sie erreichte. Es war ein furchtbarer Weg, dieser Weg, durch Lücken, die der Tod in die Reihen der Lebenden riß. Aber er schaute nicht rechts noch links, er mußte ja durch! Dann und wann regte sich’s unter seinen Füßen, er mußte über Leiber hinwegsteigen, die sich im Todeskampfe aufbäumten. Er hörte, wie vor und hinter und neben ihm die Kugeln mit dumpfem Geräusch in lebendiges Fleisch oder in die Erde einschlugen. Er fühlte, wie seine Schuhe feucht wurden von rothen Lachen, durch die er schritt. Es brauste ihm in den Ohren, es war ihm zu Muthe wie einem Ertrinkenden, dem die Fluth donnernd, erstickend in Ohren, Mund und Nase stürzt, und es war eine heiße Fluth – in der er hier unterzugehen fürchtete, heiß war der Brodem dieser enggeschlossenen, wuthentflammten Masse und heiß das schäumende Blut, das aus den Wunden spritzte, wie siedendes Wasser, wenn es sein Gefäß zersprengt. Heiß war der sonnendurchglühte Pulverdampf, der die goldenen Strahlen in seinem schwarzen Schooße über den Häuptern der Kämpfer ansammelte, und heiß waren die wuchtigen Leiber der Soldaten, die sich um Alfred zusammendrängten, wo der Kampf sich staute, und ihn zwischen sich einkeilten in fürchterlicher athemraubender Enge. Es war nicht mehr die Furcht vor den Kugeln, welche über ihm und um ihn her schwärmten – es war die Todesangst des Erstickens, des Zerquetschtwerdens, die ihn ergriff. Er wußte nicht, wie er weiter kam, oder wie weit er gekommen, – blindlings – nur noch einem dumpfen Instinct folgend, der ihm zuraunte, daß Feldheim verloren sei, wenn er nicht eile – schob und wand er sich vorwärts.
Schon hörte er nah und näher das Getrappel der Cavallerie, schon kam eine ganz neue Bewegung in die Mannschaft, die Carré bildete, um die Reiter mit dem Bajonnet zu empfangen, noch wenige Minuten und die Schlacht wälzte sich über den theuren Leib des Freundes hin! Weiter, immer weiter peitschte die Angst den Entkräfteten, es war, als zerre ihn eine unsichtbare Faust an den Haaren fort. Da stieß sein Fuß an etwas, fast wäre er in seiner Betäubung darüber weggeschritten – ein gellender Schrei entrang sich seinen Lippen, und er brach über der leblosen Gestalt Feldheim’s zusammen - er war am Ziele! –
Aber kaum eine Secunde übermannte ihn die Erschöpfung. Dann raffte er sich auf, das Schwerste blieb ja noch zu thun. Er mußte ihn fortschaffen, den starren, kolossalen Körper. Jeder Augenblick des Zauderns brachte den Tod. Wie ein einziges vielköpfiges Ungeheuer, so dicht geschlossen, so festgefügt, so gleich im Tact brauste das Dragonerregiment heran, daß die Erde unter ihm wankte und der Staub himmelhoch aufwirbelte. Ein wieherndes Kampfgeschrei scholl ihm entgegen, dem schönen, dem gewaltigen Feind, und wie ein Kornfeld, dessen Aehren sich vor der Sense des Schnitters plötzlich in Stahl verwandelt haben, starrten die Reihen der Bajonnete dem Feinde entgegen. Das gab ein starkes Mähen! „Fort – nur fort!“
Und Alfred faßte mit den schwachen Händen die Schultern des Freundes und versuchte ihn aufzuheben, zwei-, dreimal, die Zähne bissen die Lippen wund, die Füße stemmten sich fest in die blutgedüngten Schollen, die Adern schwollen, die Muskeln spannten sich an zum Zerreißen – vergebens, er brachte ihn nicht in die Höhe. Hoffnungslos ließ er die Arme sinken und schaute aus, ob kein Sanitätssoldat, kein Helfer in der Nähe sei. Umsonst, nichts zu sehen weit und breit als wild auf- und niederwogender Kampf. Es war nicht Zeit zu warten, nicht einmal, einen Nothverband anzulegen.
Nah und näher kam die Gefahr wie mit Sturmesfittigen daher. Verzweiflung faßte den machtlosen Mann und mit dem letzten Aufgebot aller Kräfte schleifte er den geliebten Körper auf der Erde hin sich nach, daß die Kleider in Fetzen rissen und das Blut stromweise aus einer klaffenden Halswunde floß. Jeder Stoß, der Feldheim traf, traf Alfred zehnfach, es war ihm, als schleife er sein eigenes Herz auf dem rauhen Boden hin, als würde ihm die eigne Brust zerschunden. Heiße thränenvolle Abbitte that er dem Besinnungslosen für die Mißhandlung, die er ihm doch nicht ersparen konnte, ihm, den er auf Händen getragen hätte, wenn er es vermocht. Aber da war ja keine Wahl; wie er ihn herausbrachte, war jetzt gleichgültig, wenn er ihn nur herausbrachte. Es war einer jener trostlosen Augenblicke, wo der Mensch noch auf Tod und Leben mit dem Schicksal um die Trümmer dessen ringt, was es ihm zerstörte. So schleppte, riß und zerrte er in gräßlich langsamer Flucht vor der anstürmenden Cavallerie den Freund auf demselben Schreckenswege fort, auf dem er sich zu ihm durchgearbeitet. Es war ein Gang nach Golgatha, wie kein schwererer gemacht werden konnte! Gehetzt von allen Schrecken der Kriegesfurie und doch kaum von der Stelle kommend mit der unbehülflichen Last, in zitternder Ungewißheit, ob der Verwundete nicht indessen den edlen Geist aushauchte! An sich dachte er nicht mehr, für sich fürchtete er nichts mehr – nur Feldheim galt seine Angst, nur dem schwachen Faden, an dem dies kostbare Leben hing, und der jetzt vielleicht bei dem rücksichtslosen Hinzerren über Wurzeln und Steine zerriß.
Wieder, immer wieder spähte Alfred’s scharfer Blick nach einem Johanniter, nach einem seiner Leute umher. Vergebens, sie waren Alle dort drüben beschäftigt, wo ein mörderischer Artilleriekampf ganze Reihen niederwarf.
„O, unser Prediger!“ wehklagten die Soldaten, wo Alfred Feldheim vorüberbrachte, und schwuren dem Feinde, der ihnen das gethan, Rache. Und während dessen war dieser bereits prasselnd auf die vorderen Reihen gestoßen, die Alfred kaum hinter sich hatte, und er hörte die Sensen klingend und klirrend um die eisernen Aehren schwingen, und hörte den dumpfen Schlag gestürzter Pferde, und wie eine ganze Wagenreihe durch eine anstoßende Locomotive nach rückwärts getrieben wird, so wichen die vorderen Reihen unter dem ersten übermächtigen Anprall zurück und Alfred ward von der plötzlichen Stauung zu Boden gerissen. „Euer Geistlicher – Ihr zertretet Feldheim!“ schrie er den rückwärts Schreitenden zu, und wieder wirkte das Ansehen Feldheim’s auch in der leblosen Gestalt; mit gewaltiger Anstrengung hemmten die Soldaten ihre Schritte, stemmten sich wie eine Mauer gegen die wankenden Vordermänner und brachten diese dadurch gleichfalls zum Stehen. Alfred ahnte nicht, daß dieser kleine Vorfall den Ausgang des Gefechts entschied. Noch wenige Minuten und der Angriff ward abgeschlagen, der Kampf zog sich weiter ins Feld hinein, nichts zurücklassend als seine Gefallenen, die weithin den Boden bedeckten. Jetzt hielt Alfred inne in seiner schrecklichen Flucht, die Gefahr war vorüber, er konnte nun Feldheim’s Zustand untersuchen. Fiebernd, athemlos kniete er nieder und hob den Oberkörper des Freundes zärtlich auf seinen Schooß. Feldheim war noch warm, aber der Puls nicht mehr zu fühlen. Alfred riß ihm den Rock auf, um die Wunde zu untersuchen; der Abendwind strich kühl über die entblößte herculische Brust, aber kein Hauch von innen hob und senkte sie mehr. Er wusch ihm die Schläfen mit Branntwein aus seiner Feldflasche, er träufelte ihm davon ein. Umsonst. Kalter Schweiß bedeckte Alfred’s Stirn und Hände, während er alle Mittel der Kunst zur Wiederbelebung anwandte, und alle vergebens. War es denn möglich, konnte denn wirklich so Gräßliches geschehen? Er hatte eine Leiche gerettet! Es war Alfred, als stürben ihm alle Glieder ab, so steif und schwer wurden sie. Er zog noch die Kugel aus der Wunde, aber das Blut hatte aufgehört zu fließen, Feldheim brauchte keinen Verband mehr – die große Seele war der Knechtschaft des Körpers entflohen. Alfred sank zurück. Das Maß des Möglichen war für ihn erschöpft. Nacht umschleierte seinen Blick, die Welt drehte sich im Kreise um ihn her. Vielleicht war es nur ein Traum, ein wüster entsetzlicher Traum, aus dem er noch erwachen konnte?! Er gab sich alle Mühe, zu erwachen, er wollte sich bewegen, wollte schreien – vergebens, seine Muskeln versagten ihm den Dienst, es war sicher, er träumte nur – er konnte ruhig weiter schlafen!
Das Bewußtsein hatte ihn verlassen, er lag in tiefer Ohnmacht. Als er wieder zur Besinnung kam, neigte sich der Tag zu Ende, das Kartätschenfeuer ward schwächer, und in der Ferne rollten Johanniterwagen mit Verwundeten beladen zum Lazareth. Er hatte geglaubt, es riefe Jemand seinen Namen, aber Niemand war bei ihm als der stumme Gefährte, den er gerettet – gerettet? O bitterer Hohn! Ringsumher war die Erde mit Todten bedeckt. Er konnte sich nicht erheben, der wuchtige Mann lag noch immer auf seinem Schooß, er war zu entkräftet, um sich der Bürde zu entledigen. Die Grundsäule seines ganzen Lebens war zusammengebrochen und hatte ihn unter sich begraben. Er weinte nicht, klagte nicht; was er in dieser Stunde erlebt, war zu ungeheuer, um zu weinen; stumpf glitt sein wirrer Blick über den leichenbesäeten Boden hin, nach dieser Stunde hatte die Erde keine Schrecken mehr für ihn. Er hob das Haupt des Freundes in die Höhe. Ein zufriedenes Lächeln lag auf des Todten Gesicht, es schien zu sagen: „Mir ist wohl!“
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 783. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_783.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)