Verschiedene: Die Gartenlaube (1870) | |
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es war ihm beim Aufstehen entglitten. War er denn wirklich fort? Sie hatte es gesehen, sie wußte es, und doch – hier, in diesen altvertrauten Räumen, wo er gelebt, meinte sie, es könne nicht sein! Rascher, immer rascher ging sie von Stube zu Stube Trepp’ auf, Trepp’ ab, als müsse er irgendwo versteckt sein. „Alfred!“ rief sie in die Stille hinaus, als könne er sie hören, „Fredy!“ Nichts regte sich. „Alfred ist fort!“ raunten ihr die leeren Wände zu. „Fredy ist fort, auf immer!“ widerhallte es in ihr, als habe sie es jetzt erst glauben gelernt, und plötzlich ließ die seltsame Spannung nach, die Starrheit löste sich und mit einem lauten Schrei sank sie in der Hausflur nieder.
Da tappte langsam etwas heran, ohne daß sie’s bemerkte, und fuhr ihr leise über das gebeugte Köpfchen. Erschrocken sah sie auf. Es war der alte halbblinde Phylax, den Alfred zurückgelassen, und der nun bei Hösli’s bleiben sollte. Der Anblick des treuen Thieres war für Anna eine unbeschreibliche Wohlthat, es war doch etwas Lebendes in dem todten Hause, etwas, das mit ihr fühlte und litt, und vor dem sie sich nicht zu schämen brauchte. Sie schlang ihre Arme um den Hals des Thieres, und die Thräne fand den Weg zu ihrem Auge. „Du alter verlassener Hund, hast so oft mit uns gespielt – und jetzt ist er fort!“ schluchzte sie, und immer reicher flossen die Thränen. Phylax leckte ihr über das heiße Gesicht und kauerte sich still trauernd neben ihr hin. So saßen sie lange, die beiden Einsamen, bis die Schatten der Dämmerung den öden Raum mit ihren verschwommenen Gestalten bevölkerten. Da ward es dem aufgeregten Mädchen unheimlich und sie erhob sich. „Komm, Phylax,“ sagte sie, ihre Thränen trocknend, „komm nur mit mir – er kehrt ja doch nicht wieder!“ Und das blinde Thier schlich mit gesenktem Kopf und hängendem Schweif nehen ihr her zum Hause hinaus, immer wieder stehen bleibend und sich umschauend, als hoffe er, sein Herr werde ihn zurückrufen.
Anna warf die Hausthür zu und drehte den Schlüssel herum. Das Haus war abgeschlossen; die Kindheit vorüber und das Mädchen war zum Weibe gereift.
Der Krieg mit Dänemark war begonnen. In den wenigen Wochen vor seinem Ausbruche hatte Alfred im Anschluß an die Johanniter, welche damals allein die freiwillige Krankenpflege in Händen hatten, aus eigenen Mitteln eine kleine Hülfstruppe ausgerüstet und, so gut es in der kurzen Zeit ging, geschult. Sie bestand aus fünfzig Trägern, drei Aerzten und den nöthigen Verband- und Transport-Utensilien, die Alfred nach eigener Construction hatte anfertigen lassen. Die kleine Truppe that Wunder an Aufopferung, und wo ihre Leute sichtbar wurden, da streckte sich jeder noch bewegliche Arm nach ihnen aus und verschmachtende Lippen öffneten sich zu einem Jubelruf. Es war, als hätten sich die Wünsche und Gebete der Mutter, Schwester oder Gattin im Augenblicke der höchsten Noth verkörpert, wo solch ein Retter erschien, um den verlassenen Verblutenden aufzuraffen und aus dem sengenden Sonnen- und Schlachtenbrande an den kühlen schattigen Verbandplatz zu bringen.
Und Alfred selbst, er leistete das Unglaubliche in seinem Berufe. Tag und Nacht stand er am Operationstisch oder an den Krankenbetten. Kein Schlaf kam mehr in seine Augen, es war als habe er zwanzig Hände, und wenn auch der gebrechliche Leib unter dem starken Willen erzitterte und erbebte, wie eine zu schwache Maschine unter der Vollkraft gespannten Dampfes, die Kraft seines Geistes riß ihn immer wieder mit sich fort.
Und trotzdem war er selbst nicht mit sich zufrieden. Ihn quälte der Gedanke unaufhörlich, wie Mancher auf dem Wege zum Lazareth verbluten könnte, weil keine ärztliche Hülfe an Ort und Stelle war, und daß er es nicht vermochte, diese in der Gefechtslinie zu leisten. Das aber konnte er nicht über sich gewinnen, nur das nicht! Mit glühender Scham stand er von ferne und sah die Johanniter sich zwischen die Sensen des mähenden Todes stürzen und ihm seine Opfer entreißen. Doch wie oft er ihnen auch zu folgen versuchte – es ging nicht! Seine Muskeln versagten ihm geradezu den Dienst, wenn er mit seinen Leuten in die Schlacht vordringen wollte; er zuckte zusammen und die Kraft verließ ihn, wenn eine Kugel in den Verbandplatz einschlug. Hier war die Grenze seiner Herrschaft über sich selbst; er konnte nur außer Schußweite operiren und mußte immer wieder zum sicheren Lazareth zurückkehren.
Eines Tages traf Feldheim im Lager ein. Er hatte sein Amt als Geistlicher und Verwalter einem zuverlässigen jungen Manne übergeben und eine Stelle als Feldprediger angenommen. „Ich will es zehnfach einbringen,“ sagte er bei seiner Ankunft zu Alfred, „wenn durch meine Abwesenheit in Saltenau etwas versäumt wird; aber sieh, es litt mich nicht mehr in der trägen Ruhe, dasselbe Bedürfniß, das Dich trieb, in Deiner Weise für das Wohl unserer kämpfenden Brüder thätig zu sein, trieb auch mich unwiderstehlich fort. Du linderst die physischen Schmerzen mit Deiner Kunst, ich will die geistigen lindern; so thut Jeder von uns, was er vermag, und so nur sind wir Beide glücklich.“
Alfred hielt ihn lange schweigend umschlungen, ein stiller Schmerz kämpfte in ihm, dann sagte er mit einem durchdringenden Blicke auf des Freundes abgezehrtes Gesicht: „Feldheim, Du siehst aus wie Einer, der den Tod sucht!“
„Nein,“ sagte Feldheim ruhig, „ich suche ihn nicht, aber wenn ich ihn in meiner Pflichterfüllung finde, so ist er mir willkommen, denn ich wurde müde vor der Zeit!“
„O, hättest Du glücklich sein und glücklich machen dürfen,“ sagte Alfred, der wohl verstand, was den starken Mann so „müde“ gemacht, „die Erde wäre zum Himmel um Dich her geworden. Doch die Menschen waren Dein nicht werth, Du hast Dich ihnen gezeigt und sie erkannten Dich nicht! Unverstanden und still gingst Du an ihnen vorüber, wie ein Abgesandter des heiligen Gral mit dem bittern Schmerz im gottgeweihten Busen, daß keine Gemeinschaft zwischen Dir und ihnen ist. O, schüttle nicht das Haupt, mich täuschest Du nicht, mich hast Du erzogen zu Deinem Verständniß, ich allein durfte Deine Herrlichkeit schauen, aber auch Deinen Schmerz! Die Thräne, die in Deinen Augen zitterte, als Du Dich abwandtest von Denen, die Du zu beglücken, zu erheben gekommen warst, sie ist in mein Herz gefallen, und das hält sie fest, ewig, ewig! Wehe einer Welt, die Dir Thränen erpreßte, und doch flehe ich Dich an, vergieb ihr und weile noch! Weile um des Einzigen willen, der doppelt arm zurückbleiben würde, nachdem er Dich erkannt und verloren!“
Und die leuchtenden Blicke des Jünglings senkten sich tief in die schwermüthigen unergründlichen Augen Feldheim’s. Dieser druckte einen Kuß auf Alfred’s Stirn. „Alfred, ich liebe Dich, und so lange ich lebe, lebe ich nur für Dich! Aber Du bedarfst meiner nicht mehr. Du wirst kämpfen und siegen und Deinen Frieden machen mit der Welt; meine Aufgabe ist vollbracht an Dir! Und nun laß mich, Alfred, daß ich mich sammle; Dein Anblick reißt alle Wunden wieder auf!“ – – –
Alfred’s Sorge war nicht umsonst. Feldheim beschränkte seine Thätigkeit nicht auf das Lazareth. Das ritterliche Wesen, welches ihm schon in seiner Jugend das Ansehen gab, als trüge er Epaulettes unter dem Priesterrocke, brach bei dieser Gelegenheit mit aller Macht hervor; das militärische Blut seiner Ahnen machte sein Recht geltend, und er war von Stunde an der Typus eines kriegerischen Priesters aus der Reformationszeit, der, in der einen Hand die Bibel, in der andern das Schwert, den Kämpfern voranschritt. Aus dem dichtesten Schlachtgewühl ragte die starre eckige Gestalt empor, er theilte Gefahr und Noth mit seinen Soldaten, und sein Muth entflammte den ihren, seine Ruhe war ihnen wie eine Bürgschaft für den Sieg – sie fühlten alle das gewaltige Element echter Mannheit in ihm, und in seiner Nähe waren sie gefeit gegen die Schrecken des Todes. – Selbst die Officiere staunten seine Kaltblütigkeit an. „Dem muß nicht viel am Leben liegen,“ sagten die beherztesten Männer, wenn sie ihn die wehrlose Brust stundenlang den Kugeln aussetzen sahen, wie ein guter Hirt im prasselnden Hagelwetter bei seiner Heerde aushält.
„Wären Sie nicht ein so ausgezeichneter Prediger – ich müßte es beklagen, daß Sie kein Soldat geworden sind!“ sagte eines Tages der General zu ihm und schüttelte ihm die Hand. „Sie wären ein großer Feldherr geworden, wie Sie jetzt ein großer Kanzelredner sind! Wir haben Ihnen, was die Stimmung unserer Leute betrifft, viel, sehr viel zu danken, und ist der Krieg vorüber, so müssen Sie bei uns Garnisonsprediger werden – wir lassen Sie nicht mehr los!“
„Excellenz,“ sagte Feldheim, „ich bin durch dies Wort belohnt genug. Die Stelle, von der Sie sprechen, müßte ich ablehnen, denn ich bin Geistlicher auf den Gütern meines Freundes Salten und werde nach dem Kriege wieder dorthin zurückkehren“
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 772. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_772.jpg&oldid=- (Version vom 15.3.2019)