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Seite:Die Gartenlaube (1870) 727.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Anna’s energischem Wesen. Dabei hatte er weder den Muth, es mit dem Fürsten, noch mit seinem reichen Schwiegervater zu verderben. Er brauchte den Einen wie den Andern, denn er sehnte sich ebenso sehr nach Reichthum wie nach Ehren. Daß er eher sterben als ein Kaufmann werden würde, verstand sich bei ihm von selbst. Aber wozu sollte er jetzt schon eine Scene machen, da die Entscheidung so weit hinausgeschoben war? Die Freuden einer Brautschaft waren ihm ja nicht versagt, er durfte Anna „kennen lernen“, also im Hause ein- und ausgehen. Das war ihm vor der Hand genug. Nach dem Kriege, der ihm voraussichtlich ein bedeutendes Avancement eintrug, hoffte er dann schon aus einem andern Tone mit Herrn Hösli reden zu können.

Das allgemeine Schweigen wurde jetzt unterbrochen durch den Diener, welcher fragte, ob das „Obigässe“ angerichtet werden dürfe. Herr Hösli nickte, und Victor mußte gehen, da er „unhöflicher Weise“ nicht eingeladen wurde. Als er nach Hause kam, fand er Alfred, der eben erst von Frank zurückgekehrt war. Er vertraute ihm triumphirend an, daß er und Anna einig seien, und daß die Sache nur noch auf Wunsch der „Alten“ geheim bleiben müsse.

„Ich sah es lange kommen,“ sagte Alfred ruhig. „Mögest Du Dein Glück zu schätzen und zu verdienen wissen!“

„Zu verdienen?!“ wiederholte Victor. „Höre Freundchen, soll ich das als Tusch nehmen?“

„Nimm’s, wie Du willst!“ sagte Alfred ohne eine Miene zu verziehen und ging in sein Studirzimmer.

„Boshafte Memme!“ murmelte ihm Victor zwischen den Zähnen nach. Er hatte Alfred nie geliebt. Jetzt aber haßte er ihn, seit Anna den Jugendgefährten ihm in so empfindlicher Weise als Beispiel vorgehalten.

Der folgende Tag verging äußerlich heiter und ward nur durch Frank’s Krankheit getrübt. Aenny’s Stimmung wurde wieder günstiger für Victor, denn dieser entfaltete, nachdem die Sorgen um die nächste Zukunft von ihm genommen waren, seine ganze Liebenswürdigkeit. Solch’ ein leichtes tändelndes Verhältniß war „gerade seine Force“. Er zeigte darin alle Grazie und Ritterlichkeit, die ihm zu Gebote stand, und verfehlte damit seine Wirkung auf Anna’s empfängliche Phantasie nicht.

Am zweiten Tage machte Aenny mit Victor und mehreren ihrer Bekannten eine Partie auf den Uetli. Alfred betheiligte sich nicht. Anna hatte ihn noch nicht wiedergesehen und fand es natürlich, daß er sie jetzt vermied; ja sie war es zufrieden, wie gerne sie sich auch mit ihm ausgesprochen hätte - ihr bangte vor diesem Wiedersehen!

Eine schönere Gelegenheit, seine Vorzüge geltend zu machen, hätte Victor nicht finden können. Er übersprang Klüfte, erklomm steile Felsen, um für Anna eine Blume zu pflücken, ängstigte die Damen dadurch, daß er knapp am Rande eines Abgrundes hinschritt, und war schön und anmuthig wie ein junger Gott. Seine reine melodische Sprache, seine vornehm leichte Haltung stach allzusehr ab von dem steifen Wesen der Freunde Anna’s und sie wendete ihr Auge wie trunken von diesen zu ihm. Er gewann unermeßlich durch den Vergleich und seine zärtliche Aufmerksamkeit, die leise Vertraulichkeit, mit der er sie auszeichnete, machte sie in den Augen der Freudinnen gar zu beneidenswerth. Das war denn doch ein Mann, mit dem man Ehre einlegt. Und sie war glücklich, daß sie mit ihm in allen Dingen Schritt halten konnte. Man machte Wettläufe, in denen sie stets mit Victor siegte, man versuchte schroffe Spitzen zu erklettern, aber sie und Victor waren immer die Ersten und oft auch die Einzigen oben. Und wenn sie so allein mit ihm auf einem Felsen stand und der Höhenwind ihre Wangen roth peitschte und sie hinabsah auf die schwerfälligen „Philister“ da unten, dann meinte sie, die ganze weite schöne Erde, die sich im unermeßlichen Panorama zu ihren Füßen hinbreitete, sei nur für sie und Victor geschaffen, und sie drückte in kindlicher Begeisterung seine Hand: „Victor, wir gehören doch zusammen, Du und ich, wir sind die Herren der Welt und kein Anderer darf uns nahen!“

Endlich war der Gipfel des Berges erreicht, ein schroff hinausragender Felsgrat war noch zu erklimmen. Die Andern, müde gehetzt von Aenny’s rastlosem Laufen, blieben zurück, nur sie und Victor kamen hinauf.

„O, könnten wir Beide allein hier oben bleiben,“ rief sie, „da machten wir uns Kronen von Erika und blauen Genzianen, bildeten uns ein, wir seien Könige und hielten Hof mit unsern stummen gewaltigen Nachbarn da drüben. Weißt Du, Victor, wo die blaue Blume der Zufriedenheit blüht, welche die Dichter suchen?“

„Nein!“

„Aber schäm’ Dich – das nicht zu errathen! Auf den Gipfeln der Gebirge blühte sie, in dem reinen Athem der Höhen nahe dem Himmel! Kommt hier herauf, ihr Dichter, und ihr werdet sie finden.“ Sie pflückte eine Genziane und steckte sie Victor an die Brust: „Schau, da hast Du sie. Aber sie blüht nur hier oben; wer sie in’s Thal hinunter nimmt mit seiner bangen drückenden Luft, dem welkt sie schnell dahin, und deshalb meinen die im Thale unten, es sei eine Märchenblume, die nirgend mehr wachse. Bei uns aber hat sie jeder Hirte, ohne daß er weiß, wie kostbar und selten sie ist! – O sieh – nun kommen die Wolken und legen sich um unsern Thron. Schau, wie es treibt und wallt um uns her. Das sind die Schleier der Berggeister – sie wollen uns verstecken. – Immer mehr! Die Erde verschwindet unter uns – nur noch ein Stückchen vom See lugt heraus wie ein blaues Auge und da drüben im Sonnenstrahl das einsame Kirchlein mit dem blinkenden Thurmknopf. Nun ist auch das verschwunden – Alles zu! Da stehen wir über den Wolken – ‚Juhuu!‘“ schmetterte sie jodelnd hinaus und die Gesellschaft, welche weiter unten ihrer harrte, gab den Ruf verhallend durch das dichte Wolkentreiben zurück.

„Ich huldige Dir, Du wilde Bergkönigin!“ lachte Victor, welcher fühlte, daß er nun doch auch etwas Poetisches sagen müsse; „ich leiste Dir den Eid der Treue für’s Leben!“

„Für’s Leben?“ fragte Anna und eine holde Freude strahlte aus ihren Augen. „O, Du lachst – es ist Dir nicht ernst!“

„Lachst Du nicht auch?“ fragte Victor.

„Ja, wir wollen lustig sein. Immer, immer! Nicht wahr, wenn wir Mann und Frau sind, da turnen und reiten und tummeln wir uns das ganze Leben hindurch!“

„Ja, bis wir alt und kränklich werden!“

Anna sah Victor bedenklich an. „Alt und krank? Ah bah! Dann bringen wir uns einander um, aus Barmherzigkeit! Gelt – Alter und Hinfälligkeit lassen wir nicht über uns Herr werden! – Juhun!“

„Anna, komm nun herunter, die Sonne hat sich versteckt, wir wollen nach Hause!“ riefen die Freunde.

Anna wollte hinabeilen.

„Halt, wozu wären denn die Wolken da,“ rief Victor, „noch schnell einen Kuß.“

„Nein,“ sagte Anna streng. „Ich küsse Dich nicht eher, als bis ich gewiß weiß, daß Du mein Mann wirst!“

„Weißt Du denn das noch nicht?“

Anna sah Victor mit einem zweifelhaften Blick an und schüttelte den Kopf: „Nein, gewiß weiß ich es nicht!“

Und wie eine Gemse graciös und sicher sprang sie hinab, daß es aussah, als stürze sie sich in das weiße Wolkenmeer, welches gleich wieder über ihr zusammenschlug. –

Als Anna mit Victor nach Hause kam, empfing sie schon in der Hausflur der Diener mit einer Schreckensnachricht, die Anna tief erschütterte. Es hatte sich herausgestellt, daß Frank’s Uebel der erste Fall jener fürchterlichen asiatischen Krankheit war, die bis dahin ganz Europa mit Ausnahme der Schweiz heimgesucht hatte. Die Aerzte gaben keine Hoffnung mehr für ihn.

„Frank!“ schrie Anna im heftigsten Schmerz auf. „Frank soll sterben! Das kann nicht sein, das darf nicht sein! Komm, Victor, geh’ mit mir zu ihm auf der Stelle! Wir wollen sehen, ob wir nichts helfen können.“ Und sie ergriff Victor’s Hand, um ihn mit sich zu ziehen. Aber wie versteinert sah sie ihn an, als Victor sie zurückhielt.

„Theuerste Anna,“ rief er, „Du wirst Dich doch nicht einer so furchtbaren Ansteckung aussetzen wollen ohne Wissen und Erlaubniß Deiner Eltern?“

„Ich brauche ihre Erlaubniß nicht, denn ich würde mir’s doch nicht wehren lassen – sie möchten machen, was sie wollten.“

„Was fällt Dir ein? Geh’ zu Deiner Mutter hinauf und frage sie, ob sie einen solchen Leichtsinn billigen würde!“

„Einen Leichtsinn nennst Du das, wenn ich Frank nicht in der letzten Noth verlassen, seine arme Frau, seine Kinder trösten will?“ rief Anna außer sich.

„Aber bedenke doch, um solch’ einen Neger Dein köstliches Leben auf’s Spiel zu setzen!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 727. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_727.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)