Verschiedene: Die Gartenlaube (1870) | |
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an das Land ziehen. Er faßte die Kette mit beiden Händen, er stemmte sich mit aller Kraft – umsonst, eine Stoßwelle schleuderte das Schiff zurück und riß ihn mit sammt der Kette, die er nicht lassen wollte, von den schlüpfrigen Stufen herunter. Nur mit Mühe konnte er sich wieder aufhelfen und Victor grollte: „Das hätte ich denken können, daß Du uns nichts nützen wirst.“
Mit unsäglicher Mühe gelang es Victor endlich, die Treppe zu erreichen. Er trieb das Schiff bis zu einem der Pfosten, die aus dem Wasser hervorragten, packte diesen und schlang rasch die Kette darum. Alfred reichte Anna die Hand beim Aussteigen, sie stützte sich darauf, mechanisch, ohne zu bemerken, wessen Hand es war, sie sah ihn nicht an, sie dachte wohl nicht mehr daran, daß es einen Alfred in der Welt gab!
Sie schaute sich um, ob Victor folge – und der arme Alfred war verschwunden, ohne daß sie nur wußte, ob er dagewesen. – Die Beiden waren allein. –
„Ah, wieder auf festem Boden!“ stammelte Victor athemlos und triefend von Nässe. „Anna, wie ist Dir? Du zitterst! Nur schnell in’s Haus! Komm, laß Dich tragen! Nicht? O –! Möcht’ ich Dich doch durch’s ganze Leben tragen und Dich bergen vor jedem Sturm, Du göttliches, schwer erkämpftes Gut! Anna, weißt Du, fühlst Du, daß Du jetzt mein bist? Ich habe Dich den Elementen abgerungen – Du bist meine Kriegsbeute, und Niemand darf Dich mir streitig machen!“
Anna hatte stumm dagestanden und mit begeistertem Blicke an ihm gehangen. Jetzt brach aus ihr heraus unaufhaltsam die Freude des wiedergeschenkten Lebens, der Dank, die Bewunderung für den Retter.
„Victor!“ rief sie. „Sieger! Ja, Du bist in Wahrheit ein Sieger, wohin Du kommst. O Du starker, Du mächtiger Mann! Mit eisernem Arme hast Du die wilde Fluth bezwungen, mit eisernem Arme wirst Du auch einst die Fluth der Feinde bezwingen! O, solch ein Mann! Du bist mir erschienen auf dem brausenden Wasser wie ein Meergott, und ich vergaß alle Angst in dem stolzen Gefühl, die Gefahr mit Dir zu theilen!“
Da schlang er den Arm um sie. „Anna, herrliches Kind, komm an mein Herz! Wir sind ja für einander geschaffen, wir sind uns ebenbürtig, wir müssen Eins werden, wie sich der Sturm und die schäumende Welle in wilder Umarmung vereinen!“
„Ja!“ rief sie und sank an seine Brust. „Wir sind für einander geschaffen. O mein Held, mein Ritter ohne Furcht und Tadel, ich habe Dich vorempfunden und auf Dich gewartet schon lange. Ja, Du bist der große Mann von dem ich geträumt, und ich will Dein großes Weib werden – würdig eines Helden!“ Sie hob die starken Arme empor, als wolle sie den zürnenden Himmel damit umfangen. „O wie herrlich das ist – wie göttlich! Ueber unsern Häuptern tost und wüthet das Unwetter, und der Sturm peitscht uns den Regen in’s Gesicht, und in meinem Herzen braust auch ein Sturm, ein Freuden-, ein Frühlingssturm, daß ich meine, es müsse mich hinaufwirbeln in die donnernden blitzenden Wolken hinein! Ach, das ist Kraft – das ist Macht. Victor, wer solch’ einen Augenblick erlebt, kann nie wieder klein sein, denn Gott selbst war ihm nahe. Nicht wahr, das fühlst Du mit mir, mein Held, mein Erretter?!“
Und wieder sank sie an seine Brust, sie achtete es nicht, daß das Wasser in Strömen an ihr herunterlief, sie sah ihn an mit einem Blick voll Muth und Glück, und es klang wie eine Jubelhymne, da sie sprach:
„Er ist gekommen in Sturm und Regen,
Er hat genommen mein Herz verwegen.
Nahm er das meine, nahm ich das seine?
Die beiden kamen sich entgegen!“
„Hast Du das gedichtet?“ fragte Victor entzückt.
Anna sah ihn erstaunt an „Das kennst Du nicht? Es ist ja von Rückert! Alfred hat mir –“ sie zuckte zusammen, als hätte sie einen Stich in’s Herz bekommen „Alfred! – O der arme Alfred!“
Sie sah zu Boden und schwieg. Auch der Donner schwieg, der Sturm legte sich und leise fielen nur noch einzelne Tropfen nieder. Es war, als hielten alle Elemente in ihrem Tosen inne, um die Stimme nicht zu übertönen, die da plötzlich in der Seele und von den Lippen des Mädchens rief: „Der arme Alfred!“
Das Gewitter hatte ausgetobt und die Abendsonne brach noch einmal im Sinken strahlend hell durch das fliehende Gewölk, als wolle sie der Welt verkünden, daß sie noch da sei, unangefochten von der Wetterfurie, die sie umdüstert hatte. Säuselnde Abendlüfte schüttelten leichte Regenschauer von den nassen Wipfeln herab. Eine Thräne im Auge, aber lächelnd, ruhte die Natur nach dem Kampfe, und von einem Ufer des Sees bis zum andern spannte sich ein Regenbogen aus wie der Engel in der Offenbarung Johannis, der über zwei Welten steht. – Ein weißbewimpeltes Schiffchen glitt auf der besänftigten Fluth darunter hin.
Anna und Victor traten aus dem Hause. Auch in ihnen hatte sich der Sturm gelegt, aber in Anna’s Seele war eine feierliche weihevolle Stimmung nachgeblieben, wie in der Natur. Victor’s Ruhe war nur Ernüchterung.
„Du hast Dich rasch umgekleidet, theuerste Anna!“ sagte Victor. „Ah – wie galant, der Himmel empfängt uns mit einem Triumphbogen!“ Er lachte und verbeugte sich scherzend gegen das Firmament, dessen schönstes Wunder sich vor seinen Augen aufthat. Anna sah ihn mit einem Ausdrucke schmerzlicher Enttäuschung an. Das war Alles, was er empfand bei diesem Anblick?
„Victor,“ sagte sie ernst. „Wessen Seele könnte wohl diese perlengebaute Brücke sehen, ohne darauf von der Erde zum Himmel aufzusteigen?“ Sie schaute trunken empor. „Mir ist, als sähe ich die Seelen aller Derer, die in Nah und Fern irgend einen siegumleuchteten Heldentod erlitten, auf dem Regenbogen einziehen in die Walhalla zu ihrer ewigen Freude. Und wenn ich denke, auch Deine Seele könnte mit unter den Verklärten sein, wenn ich denke, ich wäre gerettet worden, Du aber wärst in diesen Fluthen untergegangen und ich stünde jetzt allein am Ufer und müßte von ferne zusehen, wie Deine Heldenseele auftauchte aus dem Wellengrabe und mir entschwebte auf der strählenden Himmelsleiter – da wird mir so wunderbar weich um’s Herz, daß ich nicht begreife, wie Du jetzt scherzen kannst!“
„Aber, theuerste Anna, Du bist ja doch sonst so wenig sentimental,“ entschuldigte sich Victor; „konnte ich ahnen, daß meine muthige Anna durch den kleinen Schiffbruch so erschüttert worden ist? Das hättest Du mir sagen müssen!“
Anna schwieg. Wenn man es ihm erst sagen mußte, dann hätte er es doch nicht verstanden. Entgeistert blickte sie jetzt in den verblassenden Regenbogen. Schade um den wundervollen Anblick, der so plötzlich zerronnen war! Und mit den schwindenden Farben des Prismas verblich auch in ihrer Seele jene Geisterwelt, die sie dahinwallen gesehen hatte im Prisma eines innern Lichtes. Alles war so still und todt und so nüchtern – sie mußte an Alfred denken, wie er empfunden hätte in solch einem Augenblick. Wie schön würde er gesprochen, wie ganz und innig würde er sie verstanden haben! Und sie sehnte sich aus all ihrem neuen Liebesglück heraus nach einem tiefernsten Worte mit dem alten Gefährten.
„Du bist verstimmt, Anna?“ fragte Victor verlegen, denn er fühlte, daß er es an irgend etwas hatte fehlen lassen, und er wollte wissen, woran.
Sie antwortete nicht. Sie ging schweigend mit ihm die Terrasse entlang und lehnte sich auf die Balustrade. Die Sonne sank, es war plötzlich wieder frostig und traurig geworden auf der feuchten Erde. Wie nach jedem Kampf die erste Siegesfreude erlischt und der stillen Trauer um die gefallenen Opfer Raum giebt, so schien die Natur zu trauern um die vom Sturm geknickten Blüthen, um die vom Regen zerstörten Keime. Und Anna trauerte mit. Sie ließ das Köpfchen hängen, und aus ihren Augen war der Glanz gewichen.
Victor schaute sie besorgt und zärtlich an. „Fühlst Du Dich nicht wohl?“
„Ich bin müde, wir wollen zur Mutter gehen.“
„Theure, liebe Anna! Schenke mir noch eine halbe Stunde allein!“ bat Victor. „Ich möchte noch so Manches mit Dir besprechen. Du bist kalt geworden – komm, laß Dich an meinem Herzen erwärmen!“ Er zog sie sanft in seine Arme. Er war so hoch gewachsen, daß ihr Haupt bequem auf seiner Brust ruhte, und sie hörte den gleichmäßigen Schlag seines Herzens und das Athmen seiner kraftvollen Lunge. Sie fühlte sich so geborgen in diesen starken Armen, denen sie die Erhaltung des Lebens, dieses schönen, köstlichen Lebens dankte. Und sie bereute ihre Unzufriedenheit
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 710. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_710.jpg&oldid=- (Version vom 16.6.2019)