Verschiedene: Die Gartenlaube (1870) | |
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für die empfinden müssen, die Ihnen an Vorzügen so weit nachstehen wie der gute bedauernswerthe Alfred.“
„Anna, Theuerste, Beste! Zürnen Sie mir?“
„O nein,“ sagte Anna innig. „Ich weiß ja, wie leicht man in diesen Fehler verfällt, denn auch ich habe den schwächlichen Spielgefährten oft verspottet und ihn mein Uebergewicht fühlen lassen. – Aber einen Fehler, den ich beging, mag ich doch an Ihnen nicht sehen. Ich werde mein Lebtag Fehler haben, denn ich bin nun einmal ein unvollkommenes Ding – Sie aber, Sie sollen keinen haben – keinen!“
„Und warum nicht, Anna?“ fragte Victor, „warum nur an mich einen so strengen Maßstab legen? Ich bin ja auch nichts als ein gewöhnlicher Sterblicher.“
„Nein, das sind Sie nicht,“ sagte Anna groß und ruhig in ihrer Wahrhaftigkeit – „Sie sind ein ganz anderer Mann als alle, die ich kenne, drum fordre ich von Ihnen auch mehr, als von allen andern!“
Victor ergriff leise ihre Fingerspitzen: „Anna, großes, wunderbares Mädchen, Du kannst Alles aus mir machen, Du hast meine Seele in der Hand –“ er zuckte zusammen und schwieg. Alfred trat herzu, Anna war jäh erglüht, eine nie gekannte Freude und doch auch wieder ein unerklärlicher Schmerz durchströmte sie, daß ihr fast die Sinne vergingen.
„Wir wollen nach Hause,“ sagte Alfred, „Ihr scheint ja doch kein Interesse für das zu haben, was ich Euch zeigen wollte.“
Anna fürchtete, daß Alfred verstand, was in ihr vorging, und sie suchte um jeden Preis nach einem Vorwande, nicht mit den Uebrigen nach Hause fahren zu müssen. Endlich sagte sie: „Graf Victor, wissen Sie was? Wir wollen heute einmal die Wette machen, von der wir neulich sprachen, die, daß ich eben so schnell zu Wasser von Zürich in die ‚Enge‘ fahre, als Sie zu Lande. Bitte, thun Sie es mir zu Liebe.“
Es gab eine lebhafte Debatte für und wider. Alfred prophezeite ein Gewitter. Victor wollte Anna nicht so allein auf dem See lassen. Doch sie bestand auf ihrem Willen, und da die ganze Entfernung kaum fünfzehn Minuten betrug und Anna schon oft die doppelte Ruderprobe abgelegt hatte, so willigte Victor endlich ein, und Alfred, der auffallend blaß war, hatte sich schon lange des Streits begeben. –
Sie brachten Anna bis zum Landungsplatz und sie stieg in ein kleines Boot, machte sich fertig und stieß im selben Augenblicke vom Lande ab, wo die Herren mit Lilly im Wagen davon fuhren. Sie hatten aber kaum die Stadt hinter sich, als der Himmel sich verdüsterte und jener Windstoß, der Herrn und Frau Hösli in’s Haus gejagt hatte, den Pferden die Mähnen aufblies.
„Da haben wir’s,“ rief Alfred, „ich sah es ja, daß ein Gewitter käme!“
„Was nun thun?“ fragte Victor erschrocken. „Sollen wir umkehren und Anna zurückzurufen versuchen?“
„Was könnte das helfen?“ sagte Alfred; „wir haben jetzt ein Viertel des Weges gemacht; bis wir wieder an den Landungsplatz kämen, wäre Anna noch weiter, und wir könnten sie nicht mehr erreichen.“
„Vielleicht ist sie so vernünftig, gleich umzukehren, und dann sollten wir doch mit dem Wagen dort sein,“ meinte Victor.
„Kehrt sie um,“ sagte Alfred, „so kann sie in Zürich eine Droschke nehmen und uns folgen, das ist kein Unglück. Aber so wie ich Anna kenne, kehrt sie nicht um, denn sie fürchtet nichts, und die Gefahr wird sie doppelt reizen, das Probestück abzulegen. Und käme das Gewitter zum Ausbruch, bevor sie landete, so können wir ihr nur nützen, wenn wir ihr mit einem Kahn von der ‚Enge‘ aus entgegeneilen.“
„Du hast Recht,“ sagte Victor, „wir müssen sie zu überholen suchen und von dort aus operiren. Fahr’ zu, Kutscher, was die Pferde laufen können.“
Ein neuer Windstoß fing sich in der Scheibe von Tante Lilly’s großem runden Hut und riß ihn ihr vom Kopfe.
„Mein Hut, mein Hut!“ jammerte sie und rang die Hände dem Verlorenen nach, aber fort ging es ohne anzuhalten und die lockigen grauen Haare Lilly’s flatterten aufgelöst in dem Sturme, der nun in einen wahren Orcan überging. Der Chausseestaub wirbelte in dichten Wolken auf und hüllte Alles ein. Die Pferde schnaubten und schüttelten sich, der Kutscher fluchte und schalt auf den Föhn. „Und dabei ist Anna auf dem See!“ tobte Victor.
Alfred saß stumm und bleich da, seine Nägel gruben sich in das Fleisch seiner eigenen Hände ein. „Ich begreife nicht,“ schrie Victor, „wie Du so ruhig sein kannst!“
„Wird es dadurch besser, daß wir toben und wehklagen?“ fragte Alfred mit schneidender Schärfe. „Rettest Du Anna mit Deinem Geschrei?“
„Nein, aber mit meinen Armen werde ich sie retten und die Angst, die mich jetzt jammern läßt, wird mir im rechten Augenblick auch Kraft geben,“ sprach Victor mit einem Blick des Hasses auf Alfred.
Dieser schwieg. Da zuckte ein Blitz aus dem schmutzig grauen Gewölk herab, ein starker Donnerschlag folgte. Alfred blieb regungslos, nur seine Augen sprachen.
„Der Kerl fährt zu langsam, wir kommen nicht vom Flecke!“ rief Victor und mit einem Sprunge war er neben dem Kutscher auf dem Bock, riß jenem die Zügel weg, hieb auf die Pferde ein, daß sie im vollen Galopp dahinsprengten und den Wagen bald rechts bald links schwankend mit sich rissen. Wie feurige Geister, die sich an die Hufe der Rosse hängen wollten, huschten die Blitze um den Wagen her, daß die scheuenden Thiere mehr flogen als gingen.
Lilly schrie und weinte vor Angst und klammerte sich an Alfred an, während große Regentropfen ihren unbedeckten Scheitel netzten.
„Sei ruhig, Tante,“ sagte Alfred liebevoll und barg das alte zitternde Geschöpf an seiner Brust. Jetzt bogen sie um die Ecke der ‚Enge‘, wo eine Lücke in der Häuserreihe den Blick auf den See freigab. In Fetzen hingen die Wolken nieder und berührten fast die Spitzen der hohlgehenden Wellen, als wollte in einer fürchterlichen Laune der ganze Himmel sich in den See stürzen. Oede und leer lag die weite Wasserfläche da, nah und ferne kein Schiff zu sehen, denn wer nicht muß, der macht sich nicht in den Streit der Elemente und flieht, wenn er sie sich zum Kampfe rüsten sieht.
„Wo ist Anna? Kein lebendes Wesen weit und breit!“ schrie Victor.
Die Durchsicht war passirt, wenige Minuten später mußte eine zweite kommen. Der Regen schlug den Geängstigten in’s Gesicht, daß sie die Augen kaum öffnen konnten, Blitz auf Blitz und Donner auf Donner folgten sich so rasch, daß die einzelnen Schläge in einander flossen und ein ganzes tiefgrollendes Tonmeer bildeten, das sich in den Lüften da oben ergoß, unsichtbar, ungreifbar, und doch so fürchterlich nahe, als müsse es sich herabwälzen und die ganze Erde mit seinem tosenden Wellenschlag erdrücken. Jetzt gab die Straße wieder eine Durchsicht frei – dort, ja dort, ganz allein auf dem rauschenden kochenden Wasser rang ein Schiffchen mit der Fluth auf und nieder, hin und her geworfen wie eine Nußschale. Es war nicht erkennbar in der sturmverdunkelten Ferne, wer darin war; aber da war ja kein Zweifel; Victor hieb von Neuem auf die Pferde ein, da krachte ein Donnerschlag, das ganze ununterbrochene Grollen übertönend, knatternd, fast schreiend, als ergösse sich nun wirklich das drohende Schallmeer von oben herab, um alles Lebende unter sich zu begraben. Ein Pferd bäumte sich auf, sprang zur Seite und stürzte! Ein Aufenthalt in diesem Augenblick! Eine Minute verloren, jetzt, wo eine Minute ein Menschenleben galt! Victor war schneller vom Wagen als der Kutscher. Mit eigenen Händen riß er das Thier in die Höhe und wieder saß er oben und wieder sauste die Peitsche auf die zitternden Rosse nieder, daß sie durchaus rasten wie von Furien gehetzt mitten durch die wilde Wetterjagd hindurch, und Victor wußte nicht mehr, war es Angstschweiß oder Regen, was ihm von der Stirn triefte. Endlich, endlich war das Haus nahe. Noch zehn Schritte vom Thor stürzte das Pferd zum zweiten Male. Jetzt war es einerlei. Victor sprang vom Bock. Bevor Alfred mit seinem schwerfälligen Gange ihm folgen konnte, hatte er die Thür erreicht, flog durch den Garten und machte den Kahn los.
„Nimm mich mit!“ schrie Alfred hinter ihm herkeuchend.
„Soll ich warten, bis Du mir nachhinkst?“ rief Victor und warf den Rock ab. „Du kannst ja nicht einmal rudern, was kannst Du uns nützen?!“
Und prasselnd fiel die Kette, die Ruder waren gelöst, der Kahn schoß dahin wie eine Möve, die, bald untertauchend, bald aufschnellend, auf den Wellen spielt.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 703. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_703.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)