Verschiedene: Die Gartenlaube (1870) | |
|
lassen können – die schlägt nicht aus der Art. Wenn es ihr jetzt auch Vergnügen macht, mit dem jungen heiteren Manne zu fahren und zu reiten oder über Heldengeschichten mit ihm zu plaudern, was thut’s? Sie ist eine echte Hösli, eine Schweizerin durch und durch; sie wird ihr Herz nie im Ernst an diesen hergelaufenen Fremden hängen. Ich kenne meine Tochter!“
Herr Hösli verschwand wieder hinter einer der ungeheuren englischen Zeitungen, die völlig einem Segel gleichen, einem Segel, mit welchem der Geist auf dem Strome der Ereignisse die ganze Welt umschifft. Frau Hösli wußte, daß, wenn ihr Eheherr dies Segel aufhißte, er für sie verloren war. Sie mußte ihn dahin ziehen lassen mit den Wogen des Weltgetriebes, und sie blieb allein mit ihren kleinen Sorgen und Kümmernissen zurück.
Eine halbe Stunde mochte in vollkommenster Stille vergangen sein, da fuhr plötzlich ein Windstoß in das Zeitungssegel und schlug es dem vertieften Schiffer in’s Gesicht.
„Oho!“ sagte Herr Hösli und schaute in die Höhe, als wolle er nach dem Unverschämten sehen, der sich das erlaubt. In demselben Augenblicke fegte aber ein zweiter Windstoß Frau Hösli’s ganzes Nähzeug vom Tische mit Nadeln, Faden und Allem, was dazu gehört.
„Das giebt was!“ sprach Herr Hösli, zog das Segel ein und jagte den kleinen Dingen nach, die noch auf dem Boden herumwirbelten. „Da drüben kommt es herauf. Wo ist Anna?“
„Sie ist mit den Herren und Tante Lilly in die Stadt gefahren. Alfred zeigt ihnen das Blindeninstitut.“
„Nun, da sind sie ja geborgen,“ meinte Herr Hösli beruhigt und schob seine Frau in ihrem Rollstuhle nach Hause. Dann eilte er, noch vor Ausbruch des Wetters einen nöthigen Geschäftsgang zu machen.
Die jungen Leute waren unter dem Schutze Tante Lilly’s mit Besichtigung des Blindeninstituts beschäftigt. Tante Lilly hatte heute ausnahmsweise keinen verdorbenen Magen. Seit sie nicht mehr unter der strengen Aufsicht ihrer Schwestern stand, überaß sie sich fortwährend, was dann regelmäßig einen fürchterlichen Verdauungskatzenjammer und einige Fasttage zur Folge hatte.
Die gute Lilly war jetzt Anna’s und Victor’s ständige Begleiterin, da Adelheid kränklich und Frau Hösli lahm war. Sie war glückselig über dieses Amt, denn es trug ihr häufige Besuche beim Conditor ein. Sie wurde ordentlich dick, trotz ihrer vielen Indigestionen und wackelte auch gar nicht mehr mit den Zähnen, denn Alfred hatte ihr ein kleines nettes Gebiß von Kautschuk machen lassen, welches sie so in Ehren hielt, daß sie es immer vor dem Essen herausnahm, um es nicht durch das Beißen zu verderben. Auch eine neue Brille hatte sie bekommen, während sie früher immer nur die Brillen hatte abtragen dürfen, die Bella zu schwach geworden waren und durch die sie fast nichts sah. Jetzt hatte sie eine passende Brille und sie sah damit ganz deutlich die verliebten Blicke, die Victor Anna zuwarf; aber bis sie nach Hause kam, hatte sie es immer wieder vergessen.
Alfred war ein besserer Hüter, seine Gegenwart verhinderte überhaupt jede Annäherung; denn wie er sich auch beherrschte, Victor fühlte doch, daß er an ihm einen Nebenbuhler habe, und nahm sich zusammen, wenn er dabei war. Es hatte sich allmählich eine gespannte Stimmung zwischen den Beiden entwickelt, die wenig gemein hatte mit der anfangs so redlich gemeinten Brüderlichkeit. Der Instinct der Eifersucht stand zwischen ihnen und erhielt sie in einer Art geheimen Kriegszustandes. Wären sie noch Knaben gewesen, sie hätten sich längst geprügelt. Der Conflict aber, der zwischen den erwachsenen Männern bestand, lag zu tief, um sich mit der Faust schlichten zu lassen. Anna selbst ahnte etwas hiervon, denn sie war in Gegenwart der Beiden oft befangen und fast ängstlich, und sie athmete auf, wenn sie mit Victor allein war. So heute wieder.
Sie durchschritten schweigend die Säle, wo der Geist manchen seiner merkwürdigsten Siege feierte, wo die Blinden mit den Fingern lesen lernten und eine Menge schöner Künste übten. Alfred war dort sehr bekannt, er hatte Studien daselbst gemacht, und der Klang seiner Stimme erregte die freudigste Bewegung unter der sanften geduldigen Schaar. Mit weit vorgestreckten Händen kamen sie ihm entgegen und einige kleine Mädchen schmiegten sich an ihn mit solch glücklichem Ausdrucke, als wären sie plötzlich sehend geworden.
„Sie waren so lange nicht mehr bei uns,“ klagten Viele und streichelten ihm Aermel und Hände. „Wir haben von Tag zu Tag gewartet – und immer vergebens!“
„O, das thut mir leid!“ sagte Alfred und nahm so viele Hände, als er nur immer fassen konnte, in die seinigen. „Seht, ich habe so übermäßig zu thun mit meinen Patienten, daß ich nicht so leicht fortkommen kann wie früher. Aber Ihr sollt nicht mehr vergebens warten; ich will einen bestimmten Tag in der Woche festsetzen, an dem ich zu Euch komme. Seid Ihr’s zufrieden?“
„Ja, o ja!“ riefen die Blinden freudig.
„Denken Sie nur,“ erzählte ein älteres Mädchen, „neulich hat uns die Frau Directorin das Märchen von den drei Wünschen vorgelesen und als sie zu Ende war, fragte sie die kleine Emma, was sie sich zuerst wünschen würde, wenn die Fee ihr die Wahl ließe, – wir dachten Alle, sie würde sagen ‚das Augenlicht!‘ Aber sie sagte ohne Besinnen. ‚Daß Herr von Salten bald wieder zu uns kommt!‘ Ach, und wir haben ihr Alle von ganzem Herzen beigestimmt!“
Alfred drückte das liebliche Kind, von dem die Rede war, fest an sich. Er hätte tausend Herzen und tausend Arme haben mögen, alle Die liebend zu bergen und zu umfassen, die ihn liebten und sich vertrauend an sein Herz drängten. Und während ihn der bunte Schwarm freundlicher jugendlicher Gestalten umgab, erinnerte er sich, wie er als Kind den Libellen und Schmetterlingen nachjagte, nicht um sie zu quälen, sondern um sie zärtlich zu hegen und zu pflegen – und es war ihm zu Muthe, als seien alle die flüchtigen Geschöpfe, die ihm damals entschlüpften, plötzlich in Menschen verwandelt und hätten als solche gelernt ihn zu verstehen und kämen nun herbei, so Viele ihrer waren, die damals versprochene Liebe einzufordern.
„Es ist, als habe er es den Leuten angethan,“ sagte Anna leise zu Victor, während Alfred sich mit den Blinden beschäftigte. „Wohin er kommt, fliegen ihm alle Herzen entgegen.“
„Es ist das Krankhafte in seinem eigenen Wesen,“ flüsterte Victor, „was die Kranken an ihn fesselt. Man sagt ja: Leidensgefährten hätten stets Sympathie für einander – und Alfred ist eben durch und durch morsch.“
„Der Unglückliche!“ sagte Anna mitleidig.
„Ja, er ist sehr zu beklagen, denn er wird es mit diesem siechen Körper nie zu etwas bringen – über kurz oder lang bricht das wurmstichige Gebäude unter der Arbeitslast zusammen und dann schleppt er sich vielleicht als ein unnützer Krüppel durch’s Leben. Schade um das ritterliche Geschlecht der Salten, daß es so verlöschen muß. Es ist wirklich traurig!“
Anna schwieg.
„Ich bitte Sie,“ sagte Victor, „können Sie begreifen, wie ein solcher Mensch nur überhaupt fortleben mag? Was hat er denn vom Leben? Nichts, gar nichts! Denn sich in der Stickluft der Spitäler zwischen Stöhnenden und Sterbenden herumzutreiben, das ist doch, auf Ehre, kein Genuß. Eine Frau wird er auch nicht bekommen, denn wer wird sich solch’ einem lecken Schiff anvertrauen? Also – wozu ist er noch auf der Welt? Zu gar nichts! Und dennoch ist er immer so besorgt um sein Leben, daß er vor jedem Lüftchen zittert. Ich schösse mir einfach eine Kugel vor den Kopf, wenn ich in seiner Lage wäre!“
„Ja, das thäten Sie!“ sagte Anna und schaute an der Gestalt Victor’s empor, die so sicher und festgefügt vor ihr stand, als könne keine Zeit und keine Krankheit ihr je etwas anhaben. „Ihre Lebensbedingungen sind andere als die Alfred’s. Sie wollen und müssen Ihren Muth, Ihre Tapferkeit bethätigen, Sie könnten es nicht ertragen mit Ihrem Thatendrang in der Brust eine lähmende Krankheit an sich nagen zu lassen, die Sie für Ihre Bestimmung untauglich machte. Alfred aber kann seine Bestimmung erfüllen, ob gesund oder krank, und so wie ich sein Herz kenne, weiß ich, er lebt nur um zu nützen, und so viel er nützt, so viel ist ihm auch sein Leben werth.“
Victor beugte sich zu Anna nieder. „Sie sprechen, als hätte ich meinem Vetter einen Vorwurf daraus gemacht, daß er sich nicht umbringt! Anna! Können Sie mich einer solchen Herzlosigkeit für fähig halten?“
„Nein,“ sagte Anna ehrlich, „denn ich weiß ja, wie Sie an ihm hängen. Aber es thut mir weh, wenn ich sehe, daß Sie sich unwillkürlich Ihrer Kraft und Gesundheit gegenüber Ihrem Vetter überheben. Sie sind so von Gott begnadet mit Allem, was einen Mann groß und herrlich macht, daß Sie doppelt edel und gütig
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 702. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_702.jpg&oldid=- (Version vom 16.6.2019)