Verschiedene: Die Gartenlaube (1870) | |
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ich sie förmlich auswendig wußte, so daß ich sie ganz genau sah, auch wenn ich sie nicht sah!“
Joseph unterbrach sich einen Augenblick in seiner schlichten Erzählung; es war, wie wenn bei dieser Erinnerung ein anderer Geist über ihn käme; seine Augen leuchteten als er fortfuhr:
„Wenn ich auf dem Anger das Vieh hütete, dachte ich an nichts als an des Pfarrers und Regeli’s Nase und versuchte sie mit einem Stecken in die Erde zu zeichnen. Das war meine liebste Beschäftigung, und ich ruhte nicht, bis ich’s wirklich dahin brachte, daß die Nase im Sande so aussah, wie ich sie im Kopfe hatte. Aber wenn ich mir so viel Mühe gegeben hatte, dann that mir’s auch leid, daß der Regen meine Zeichnung immer wieder wegspülte. Ich nahm mir eine Kohle mit und malte die Nasen auf einen geschützten Stein, wo der Regen nicht hinschlug, und endlich malte ich dann zu den Nasen auch noch Gesichter, und sie wurden dem Pfarrer und dem Regeli immer ähnlicher. Zuletzt mochte ich gar nichts mehr thun als zeichnen, und als ich die Gesichter, die mir gefielen, oft genug gezeichnet hatte, da zeichnete ich auch die, die mir nicht gefielen, und zuletzt kam es mir bei, daß ich die Bilder gerne bei mir zu Hause haben und aufheben möchte, und daß ich sie ja auf ein Stück Papier machen könnte. So sammelte ich mir denn jeden Fetzen Papier, weil ich zu arm war, um mir zu kaufen, und meine Schulbücher durfte ich nicht vollschmieren, das hätte mir der Lehrer ausgetrieben! Ach, Herr Doctor-Baron, ich muß es gerade gestehen, ich stahl dem guten Lehrer ein Stückchen Bleistift – aber der Diebstahl drückte mich so, daß ich es ihm heulend wiederbrachte. Der brave Mann ließ mir’s und verzieh mir, er gab mir sogar, als er hörte, wozu ich’s wollte, ein wenig Anleitung zum Zeichnen, soviel er eben selber konnte, und schenkte mir Papier und einen alten Kalender mit Bildern.“
„Und nun hast Du erst recht nicht mehr davon lassen können?“ fragte Alfred lächelnd.
„Jetzt gar nicht mehr, lieber Herr, jeden Rappen, den mir die Mutter ließ, verwendete ich auf Papier und Bleistift, – zu Farben langte es nie. Ich hatte ja kein Vergnügen, ich hatte keinen Schatz – ich hatte nichts als mein Zeichnen, und das ließ ich nicht, wieviel Ohrfeigen ich auch von der Mutter bekam, so oft sie mich dabei erwischte. Wenn mich die Bursche auf der Kegelbahn oder beim Tanze mit Spott und Hohn fortjagten, da heulte ich nicht und fluchte nicht, ich schlich mich sachte bei Seite, wo ich sie noch Alle von Weitem sehen konnte, langte meinen Stift und Papier heraus und zeichnete sie ab, und machte ihnen aus Bosheit recht abscheuliche Fratzen. Was häßlich an ihnen war, machte ich noch häßlicher, dicke Nasen noch dicker, große Mäuler noch größer, – ich that ihnen, wie sie mir, ich verspottete sie, – nur nicht, wie sie mich, in Worten, sondern in Bildern. So entstanden die garstigen Gesichter, die Sie da in der Hand haben.“ Er zeigte auf die Carricaturen, welche Alfred sinnend betrachtete, und schwieg.
„Die Contouren sind unsicher,“ sagte Alfred, „von Schattirung hast Du natürlich keinen Begriff, und dennoch trugen alle diese mit wenig Strichen hingeworfenen Köpfe ein so charakteristisches Gepräge, daß ich wetten möchte, sie seien ähnlich.“
„Aber nicht wahr, Herr Doctor-Baron, Sie sagen Niemand etwas von dem Allem?“ flehte Joseph ängstlich. „Ich bin gewiß nicht feige, es ist mir nur um meine Nase! Denken Sie nur, wenn die Leute böse würden über die Fratzen und es gäbe eine Schlägerei, so könnte ich ja um meine Nase kommen, denn auf die würden sie’s doch zuerst absehen. Denken Sie, wie schrecklich das wäre!“
„Das wäre allerdings ganz entsetzlich,“ sagte Alfred unwillkürlich lachend, „und darf nicht geschehen, denn zu einer zweiten wäre kein Zeug mehr da, wenn die erste verunglückte – aber ich habe trotzdem die Absicht, die Bilder im Dorfe zu zeigen.“
Joseph sah ihn erschrocken an.
„Sei ruhig – ich garantire Dir Deine Nase,“ sprach Alfred mit Humor weiter, – „denkst Du denn, ich wäre weniger besorgt um sie, als Du selber? Sie ist ja mein eigenes mühsames Werk, und das eigene Werk liebt man. Sie ist die erste Nase, die ich gemacht habe, – ich bin so stolz auf sie wie Du und werde ihr nichts geschehen lassen!“
Er schloß die Mappe und winkte dem besorgten Joseph, ihm zu folgen. Als er mit ihm herabkam, fand er seine Mutter bei der kranken Frau, die ihr soeben zeigte, daß ihr Lager und ihre Decke nur aus Säcken dürren Laubes bestand, welches ihr Sohn für sie gesammelt hatte, und Alfred erzählte ihr, wie lange Joseph in der Klinik behauptet hatte, er könne auf nichts Anderem als auf Laub schlafen.
„Jetzt,“ meinte Joseph, „werde ich mich am Ende schwer wieder daran gewöhnen.“
„Das sollst Du auch nicht,“ sagte Alfred, „und Deine kränkliche Mutter soll auch ein besseres Bett bekommen.“
Seine Augen schweiften, während er sprach, umher nach Anna. Sie war wieder mit Victor bei den Pferden. Sie hatte den Arm auf den Rücken ihres Schimmels gestützt und lehnte nachlässig an dem schönen Thiere, welches so ruhig stand, als wäre es von Stein. Victor redete lebhaft und eindringlich, während sie mit glänzenden Augen zu ihm aufblickte. Es war ein herrliches Paar – Alfred gestand es sich ehrlich; er war immer ehrlich gegen sich wie gegen Andere –; sie paßten zusammen, wie wenn sie von Künstlerhand für einander geschaffen wären, das heißt äußerlich! Aber ob auch innerlich? Ob sie etwas anderes verband als das ästhetische Behagen, welches sie sich gegenseitig bereiteten, und das gemeinsame Gefühl ebenbürtiger Kraft? Er konnte es nicht glauben. Wie aber, wenn das unerfahrene junge Mädchenherz eben diese auf Aeußerlichkeiten beruhenden Empfindungen für Liebe hielt – wenn Anna eine Uebereilung beging, bevor sie über sich selbst klar war? Victor hatte ernste Pläne mit ihr, denn sie war ja so schön, daß er sie lieben mußte, und hätte er sie auch nicht geliebt – sie war ja die „reiche Frau“, die Victor als Entschädigung vom Schicksal zu erwarten schien. Alfred litt namenlos, aber Niemand sollte es ahnen, denn er war zu stolz, um vor irgend einem Auge die Rolle des Liebesmärtyrers zu spielen.
„Was wollen alle die Leute?“ fragte er, sich aus seinem Sinnen aufraffend. Der Schwarm von Männern, Weibern und Kindern vor der Thür war mittlerweile noch angewachsen und Alle schienen sein Herauskommen zu erwarten.
„Herr, das sind lauter Leute, die curirt sein wollen,“ sagte Joseph’s Mutter, denn sie hatte gehört, während Alfred auf dem Speicher war, wie die Bauern alle ihre Bresthaften herbeigeholt hatten, um sie Alfred vorzuführen und seine Hülfe zu erbitten – denn „der that es ja umsonst!“
Alfred trat unter sie hinaus und augenblicklich entstand ein Gedränge um ihn her, dessen er sich kaum zu erwehren wußte. Jeder wollte der Erste sein, Jeder berichtete eine fabelhafte Leidensgeschichte; Jeder wollte den Andern überschreien, Weiber mit Kröpfen, Mütter, kranke Kinder, Männer, halblahme Eltern nach sich zerrend – es war ein Tumult, daß selbst Anna’s Interesse bei der komischen Scene rege wurde, und sie rief lachend:
„Aber Fredy, Du hast ja mehr Zulauf als unser Herr Jesus, da er die Kranken und Lahmen heilte!“
„Das ist natürlich, Fräulein Anna,“ lächelte Victor „unser Herr Jesus hat den Leuten auch keine Nasen gemacht, so viel ich weiß!“
Anna erwiderte nichts, Victor’s frivoler Scherz hatte ihr nicht gefallen. Alfred bemerkte es.
„Seid ruhig, Ihr Leute,“ sagte er streng, aber nicht unfreundlich. „Ich bin nicht hierher gekommen, um ärztliche Curen zu machen, aber wenn Ihr mich in Zürich aufsuchen wollt, so sollt Ihr mir willkommen sein und ich werde Euch helfen, so gut ich kann. Nun aber beantwortet mir, was ich Euch frage“ – er zog die Mappe mit den Bildern hervor und winkte ein paar der anständigsten Leute zu sich heran. „Sagt einmal, wer ist das, kennt Ihr Den?“
Die Gefragten streckten neugierig die Hälse und betrachteten die Zeichnung, die ihnen Alfred zum Schrecken Joseph’s hinhielt.
„Das ist ja der Herr Pfarrer!“ riefen sie. „Aber seht nur, wie ’s ihm vergleicht!“ Es war des Wunderns kein Ende.
„Und das ist Schulmeisters Regeli!“
Wieder Staunen und Händezusammenschlagen.
Jetzt zeigte Alfred eine der Carricaturen.
„Kennt Ihr auch Den?“
Da ertönte ein schallendes Gelächter.
„Das ist ja Lochhabers Ulli!“
„Ja bi Gott, er ist’s!“
„Und was er für eine Nase hat – und das Maul – und die Warze mit den Borsten!“
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 682. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_682.jpg&oldid=- (Version vom 7.4.2019)