Verschiedene: Die Gartenlaube (1870) | |
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gestoßen aus Feigheit, weil ich die Kraft nicht in mir fühlte Dir
zu widerstehen, sobald Du mir nahe trätest. Ich war nicht stark,
nur hart; die Stärke ist milde, die Schwäche verbirgt sich in der
Härte wie im einem Panzer. Ich habe Dich beleidigt, wie nie ein
Weib beleidigt ward, um Dich von mir zu verjagen und mir die
Versuchung zu ersparen, der ich nicht gewachsen war! Du aber,
Du verstandest mich nicht, und in die mir geöffneten Arme sank
– ein Anderer! Hätte ich diese offenen Arme, statt sie von mir
zu stoßen – nicht um meinen Hals geschlungen – aber liebevoll
gehalten – wie man einem Kinde, das in’s Feuer greifen will,
die Hände hält, keinem Andern, das weiß ich jetzt, hätten sie sich
ferner aufgethan. Das war meine große Schuld.“
„O mein Gott!“ stöhnte Adelheid und netzte mit ihren Thränen die Brust, an der sie lehnte, und ihre Lippen drückten einen leisen Kuß darauf, kaum fühlbar und doch sengend bis in’s Herz hinein.
„Sieh,“ fuhr Feldheim fort, „jetzt bin ich wahr, denn keine Pflicht bindet mir mehr die Zunge – Du bist frei – und wenn der Verklärte auf uns niederblickt und Abgeschiedene noch weinen können, so wird er uns beweinen wie wir ihn, denn wir sind namenlos elend!“
„Namenlos!“ wiederholte Adelheid fast zusammenbrechend.
Er hielt sie aufrecht in seinen Armen. „Ja,“ sprach er, „ich habe nach Dir gedürstet mit allen Kräften meiner Mannesseele. Ich habe meine ganze Laufbahn zum Opfer gebracht, um in Deiner Nähe zu leben und Dein Kind zu erziehen, und ich forderte doch keinen andern Lohn als Deinen süßen Anblick! Nun sage, wer hat Dich mehr geliebt – er oder ich?“
Sie klammerte sich an ihn und vermochte nicht zu antworten.
„O Helione, Helione – Du bist herabgestürzt aus Deiner Höhe, ich aber will bei Dir aushalten und Dich aufrichten, arme Zerschmetterte, denn – warum soll ich es nicht sagen? – wir können uns einander nach Dem, was geschehen, nicht mehr angehören; ich aber kann nicht aufhören Dich zu lieben. Nie, nie wird ein anderes Weib an dieser Brust ruhen, die meine untergehende Sonne geküßt. Und nie werden diese Lippen mehr einen andern Mund berühren, die jetzt den ersten und letzten Kuß auf die Stirn drücken.“
Er bog sich zu ihr nieder, und ihr war, als müsse dieser Kuß auf ihrer Stirn wie eine Oriflamme emporlodern.
„Tödte mich!“ sagte sie mit bebender Stimme, „tödte mich! Wie kann ich leben nach dem Ende dieses Augenblicks?“
„O dürft’ ich Dich tödten und mich mit Dir!“ seufzte Feldheim auf, und sein nerviger Arm preßte die süße Gestalt mit der ganzen Macht seines Schmerzes an sich – der Athem verging ihr und sie glaubte – sie hoffte – zu ersticken. Regungslos, lautlos hielt sie aus in der tödtlichen Umarmung, denn solch ein Ende war ja Seligkeit.
Da ertönte ein Schrei von oben herab, ein Weheschrei, als hätte der Schmerz in den beiden stummen Herzen wider ihren Willen Gestalt gewonnen und irre nun losgelöst als Klageruf durch das stille Trauerhaus, und sie sahen sich entsetzt an: „Was war das?“
Noch einmal wiederholte sich der schreckliche Ton. „Das ist Alfred!“ Mit Gedankenschnelle flogen die Beiden die Treppe hinan, die Thür zu Adelheid’s Zimmer war offen – Alfred lag neben dem offenen Sarg am Boden. Die Schwestern standen rathlos dabei. Noch einen Schrei stieß er aus, als seine Mutter ihm nahte, in dem sich Abscheu und Schmerz vereinigten, dann streckte er sich und blieb mit erstarrten Gliedern liegen wie ein Todter.
„Das ist Ihr Werk, Herr Candidat,“ rief Wika „Sie haben den Knaben schlecht genug gehütet, wenn er Zeit fand, sich hier herauf zu schleichen!“
Feldheim hörte nicht auf diese Worte. Er bog sich nieder und hob das Kind mit zitternden Händen behutsam auf, als sei es von einem Thurm herabgestürzt und jedes Glied an ihm zerschlagen. Und es war ja auch zerschlagen, das Leben, das er so treu gepflegt; die Frucht jahrelanger Mühe und Geduld vielleicht mit Eins vernichtet! Still trug er den Knaben hinab und legte ihn in das noch warme Bett.
Adelheid war ihm schüchtern gefolgt. „Das ist meine Schuld,“ sagte sie.
„Nein, die meine!“ sprach Feldheim, und seine dunkeln Augen ruhten mit einem unbeschreiblichen Ausdruck auf Adelheid. Sie kniete bei dem Sohne nieder und rieb ihm Schläfen und Hände. Feldheim ließ sie gewähren und stand am Fußende des Lagers.
Alfred schlug die Augen auf und zuckte zusammen, als er seine Mutter sah. „O, warum weckt Ihr mich!“ schrie er. „Laß mich, Mutter, laß mich! O Vater, Vater, mein lieber Vater!“
„Alfred!“ flehte Adelheid, „Alfred, sei barmherzig gegen Deine Mutter! Feldheim, sprechen Sie für mich!“
Feldheim zog den Brief des Freiherrn an seinen Sohn aus der Brust. „Hier mag ein Höherer reden, lies das, mein Alfred, es ist Deines Vaters Abschiedswort.“
Lange Zeit verging, ehe der Knabe etwas Anderes zu thun vermochte als laut zu weinen und den Brief, auf dem des Vaters Hand geruht, zu herzen und zu küssen.
„Lesen Sie ihn mir vor,“ bat er endlich, „ich sehe nichts!“
Feldheim hatte Licht angezündet und las mit gebrochener Stimme und schwimmenden Augen das heilige Vermächtniß. Sohn und Mutter lauschten mit gefalteten Händen und ihre Herzen flossen über in dem warmen Hauch der Versöhnung, der dem Briefe entströmte.
Alfred hatte die Hand seines Lehrers gefaßt und die Stirn daran gelehnt; so lange er diese Hand hielt, war er geborgen in all seinem Jammer. „An seinem starken Herzen wirst Du Trost finden für den ersten großen Schmerz, der über Dich kommt, armer Verlassener.“ Ja, Alfred fühlte es in der tiefsten Seele, der Todte hatte Recht.
Feldheim las weiter; als er zu der Stelle kam: „Steh’ ihr bei, denn die Reue wird über sie kommen und sie wird nichts haben als Dich!“ da brach Adelheid zusammen. Sie hatte zu viel erlebt und gelitten, ihre Sinne schwanden.
„Adelheid!“ rief Feldheim Alles vergessend und kniete bei der bleichen Frau nieder, ihre sinkende Gestalt zu stützen. „Adelheid! Fassung, Muth!“ flehte er außer sich und strich ihr die Locken aus dem schönen todtenähnlichen Gesicht.
Da klopfte es an die Thür und gleichzeitig ward sie auch geöffnet. Ein Polizeibeamter trat mit zwei „Landjägern“ herein.
„Herr Candidat Feldheim?“
„Der bin ich!“
„Ich habe hier einen Verhaftsbefehl für Sie.“
„Für mich?“ fragte Feldheim betroffen und noch immer die leblose Adelheid in den Armen haltend. „Wessen klagt man mich an?“
„Graf Schorn ist auf seiner Flucht verhaftet worden. Er beschuldigt Sie der Urheberschaft eines Duells und eines Mordversuchs gegen ihn selbst.“
„Ich verstehe,“ sagte Feldheim mit seiner alten Fassung und Würde. „Ich bin bereit, Ihnen zu folgen!“ Er erhob sich und trug Adelheid sanft in das Nebenzimmer auf ein Sopha. „Grüß Deine Mutter von mir, wenn sie erwacht,“ sagte er zurückkehrend zu Alfred und küßte den Knaben. Dieser hatte dem ganzen Vorgange athemlos gelauscht. Jetzt brach sich das Entsetzen erst Bahn über die bleichen Lippen und er klammerte sich in Todesangst an den Lehrer.
„Herr Feldheim, Sie sind unschuldig, Sie haben keinen Mord begangen – lassen Sie sich nicht so fortschleppen wie einen Verbrecher …“
„Ich muß mich dem Gesetz fügen, mein Kind, fasse Dich und trage das Unabänderliche. Laß mich gehen, ehe Deine arme Mutter wieder zu sich kommt, und tröste sie – hörst Du, tröste sie, so gut Du kannst. Ich hoffe, bald wiederzukehren. Lebe wohl!“
„O, ist es denn möglich, daß ich das Alles überleben kann – erst den Vater verloren und nun auch Sie?“ schluchzte Alfred und rang die zitternden Hände. „Lieber Gott, lieber Gott, wie soll ich’s denn überstehen all das Elend, ich armes schwaches Ding, wenn ich auch Sie nicht mehr habe?“
„Du sollst und wirst es überstehen, denn Gott will, daß Du ein Mann werdest aus eigener Kraft – daran denke!“
Der Candidat hatte mit den Häschern das Zimmer verlassen. Alfred war jetzt ganz allein. Wie flüssiges Erz ergoß sich das Wort des Lehrers durch seine wunde Seele, wurde darin hart und stählte sie. Unaufhörlich tönte es in ihm nach wie eine Losung: „Aus eigener Kraft!“
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 288. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_288.jpg&oldid=- (Version vom 11.1.2019)