Verschiedene: Die Gartenlaube (1870) | |
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großen, nie zu tilgenden Schuld!“ Sie warf das thränenüberströmte Gesicht auf die kalte Leichenhand und küßte sie wieder und wieder und wartete auf eine Antwort, als müßte der Todte noch einmal die Lippen öffnen, um sich ihrer Reue zu erbarmen. Aber er sprach nicht. Still lag er da, so schrecklich still! Auf seiner Stirn die Majestät des Todes, um seine Lippen das erstarrte Lächeln, mit dem er gestorben, der letzte Dienst, den die Muskel vielleicht der entfliehenden Seele gethan.
Ihr graute, und dennoch war es so schön, so erhaben anzuschauen, das greise, geduldige Haupt, das sich um ihretwillen im Tode geneigt. Und sie faltete die Hände und betete aus ihrer tiefsten zerknirschten Seele heraus!
Da hörte sie plötzlich einen wiegenden Schritt die Treppe heraufkommen, sie kannte diesen Schritt. Mit Entsetzen sprang sie auf, flog nach der Thür und verriegelte sie, als drohe ihr von draußen eine Gefahr, dann wankte sie wieder zu der Leiche zurück und barg das Gesicht in den Falten des Betttuchs. Es klopfte. Adelheid rührte sich nicht. Es wurde versucht zu öffnen, vergebens.
„Adelheid,“ rief Egon, „bist Du nicht da?“
Keine Antwort.
„Adelheid, hörst Du mich nicht? Wach’ auf, ich komme, Abschied zu nehmen!“
Alles blieb stumm.
„Ist es denn möglich, daß Du mich so fortlässest? Ich gehe, Adelheid; willst Du mir kein Lebewohl gönnen?“
Er wartete einige Minuten.
„Adelheid,“ rief er, „wenn Du mich jetzt von Deiner Schwelle weisest, weisen kannst, dann sind wir getrennt auf ewig!“
Auch diese Drohung nützte nichts, Adelheid war wie an die Leiche gekettet, ihr war als müßte der Todte ihre Buße sehen, sie heftete den Blick auf ihn und wankte nicht.
„Adelheid,“ rief Egon, „hier liege ich auf den Knieen und netze mit Thränen Deine Schwelle, überliefere mich nicht der Verzweiflung; wenn ich von hinnen muß, ohne Dich noch einmal zu umarmen, so werde ich wahnsinnig.“
Da sprang Adelheid empor und öffnete die Thür. Egon lag auf den Knieen, das schöne bleiche Weib, von den wallenden Locken wie von einer Glorie umgeben, erschien ihm wie ein überirdisches Wesen.
„Egon,“ sagte sie mit wahrer Hoheit, „wenn Du glauben kannst, ich vermöchte Dir Angesichts dieser Leiche noch die Hand zu reichen, dann bist Du nicht werth, daß ich Dich je geliebt. Geh’ und rette Dich, unsere Wege sind von heute an getrennt,“ – sie zeigte nach der Leiche. „Hier diese Leiche versperrt mir auf ewig den Pfad an Deiner Seite, ich kann nicht über sie hinwegschreiten, sie ist der Grenzstein, auf dem mit blutiger Schrift verzeichnet steht, daß ich irre ging, so lange ich mit Dir wandelte!“
Egon sprang auf und wollte Adelheid’s Hände ergreifen, doch sie entzog sie ihm.
„Ich ehre und schone Deinen Schmerz,“ sprach er, „ich könnte mich vertheidigen, könnte sagen, daß Du kein Recht hast, zu verdammen, wozu allein die Liebe zu Dir mich gebracht! Doch ich will die Schuld nicht feige von mir abwälzen. Das Eine schwöre ich Dir, ich werde kein Mittel unversucht lassen, Dein Herz mir wieder zu gewinnen; schlägt aber Alles fehl, so war das Gefühl, das Du mir weihtest, keine Liebe, so hast Du mein Lebensglück einer elenden Koketterie geopfert – und dann, Circe, hüte Dich vor der Rache eines zum Aeußersten getriebenen Mannes!“
Adelheid vehüllte mit Entsetzen vor dieser Anklage das Gesicht und lehnte halb ohnmächtig die Stirn an den Thürpfosten. Ehe sie es ahnte, hatte Egon sie umschlungen, mit wildem Ungestüm preßte er das sich sträubende Weib an die Brust und drückte einen brennenden Kuß auf ihren Hals. „Auf Wiedersehen, meine Adelheid!“ rief er und eilte die Treppe hinab. Als er in sein Zimmer trat, fand er Victor.
„Vetter,“ sagte dieser, „Du willst abreisen ohne mich?“
„Ja, mein Kind, in einer Stunde muß ich auf der Bahn sein, sonst komme ich nicht mehr fort. Du reisest mir morgen nach und bringst mein Gepäck mit. Ich kann heute nur eine Handtasche brauchen. Du wirst Alles besorgen, nicht wahr?“
„Onkel,“ sagte Victor, „was bedeutet denn die ganze Heimlichthuerei und das Gewinsel im Hause? Hast Du Dich mit Jemandem geschlagen?“
„Ja, Victor, ich hoffe, Du schweigst?“
„Auf Fähnrichsparole!“
„Ich hatte das Unglück, Herrn von Salten zu erschießen!“
„Herr Gott, Sapperment!“ schrie Victor aufrichtig erschrocken, „das nenn’ ich Pech!“ Er schüttelte den Kopf. „Der arme alte Herr! Wirklich, er thut mir leid! Aber weshalb gingt Ihr denn los? Etwa wegen der gnädigen –“
„Schweig’, Bursche!“ befahl Egon, sich in Hast zur Reise rüstend.
Victor legte die Hand an die Mütze. „Nichts für ungut, lieber Vetter!“ sagte er erschrocken und ging hinaus.
Egon war indessen mit seinen Vorbereitungen fertig geworden. Er athmete auf, als er die Schwelle überschritt. Es war noch früh, kaum sieben Uhr, er konnte unbehelligt abreisen. Als er unter die Hausthür trat, war es ihm doch, als müßte er dem Freiherrn noch Adieu sagen und ihm danken für seine Gastfreundschaft. Aber der Wirth, der ihn so lange beherbergt, lag da oben getödtet von der Hand des Gastes. Egon überlief ein heimlicher Schauer, doch er raffte sich auf: „Er hat’s ja nicht anders gewollt!“ beruhigte er sich wieder. Morgen hoffte er in M*** zu sein, und dann war die ganze furchtbare Katastrophe ein wüster Traum, der die Seele eine Zeit lang bedrückt, aber ohne Folgen vorübergeht.
Flüchtigen Fußes eilte er durch den Garten. Er wollte zu Land nach Zürich und wandte sich nach der Rückseite des Guts, der „Enge“ zu. Der dichte Nebel, dem die Sonne auf’s Neue gewichen war, begünstigte seine Flucht. Weit und breit war Alles menschenleer und verschleiert.
Da schien es ihm plötzlich, als fänden seine Schritte ein Echo, er hörte sie doppelt. Er stand still, das Echo dauerte fort, es verstärkte sich. Er sah sich um, aber das Auge blieb hinter dem Ohr zurück, es konnte den Nebel nicht durchdringen. Er ging rasch weiter. Aber die Schritte hinter ihm kamen immer näher, jetzt wußte er, daß man ihn verfolge. Er dachte daran, sich zu verbergen, doch er befand sich in einer schmalen Allee von Rosenbäumen, da gab es kein Versteck. Jetzt erkannte er auch den Verfolger, es war der Candidat. In wenigen Augenblicken hatte dieser ihn erreicht. „Halt!“ rief er und faßte den Grafen am Arm, „bleiben Sie!“
Egon blieb stehen wie eingewurzelt. Der Candidat war in diesem Augenblick sein verkörpertes Schicksal, ihm konnte er nicht entfliehen. Feldheim hielt die Pistolen des Freiherrn in der Hand, er war außer Athem von dem raschen Lauf, es schien als seien alle Dämme der Selbstbeherrschung niedergerissen und in vollen Strömen überfluthete ihn Wuth und Haß.
Er wollte Egon eine der Pistolen. aufdrängen und sprach mit zusammengebissenen Zähnen: „Vertheidigen Sie sich!“
„Was soll das?“ rief der Graf, die Waffe zurückweisend.
„Sie fragen? Konnten Sie glauben, ich ließe Sie ungestraft von dannen ziehen? ich ließe den Mord am Besten, Reinsten von uns Allen geschehen, ohne ihn zu rächen? Seit Wochen ertrug ich Unmenschliches mit unmenschlicher Geduld, Beleidigung häufte sich auf Beleidigung, Groll auf Groll und ich – schwieg! Ich habe ihn hinuntergewürgt den immer wachsenden Haß, lange – zu lange. Aber Alles hat seine Grenzen – jetzt ist meine Langmuth am Ende. Sie haben das Weib verführt, das ich anbetete; den Mann getödtet, der mir ein Vater war – Bube, niederträchtiger Bube, – der das Heiligste geschändet zum Zeitvertreib, – ich fordere Genugthuung im Namen des gemordeten, seines hülflosen Sohnes – und meiner eigenen Schmerzen!“
Egon erbleichte, er trat einen Schritt zurück vor der furchtbaren Erscheinung; solch einem Feind hatte er noch nie in’s Auge geblickt.
„Hören Sie mich“ – sprach er mit entfärbten Lippen, „ich will Ihnen jede Satisfaction geben, aber in redlichem Zweikampf, nicht jetzt, nicht hier ohne Secundanten, – ohne Arzt! Sich so nahe dem Hause und unter solchen Umständen zu schießen, hieße sich als Mörder den Gerichten überliefern, und die Lage des Ueberlebenden wäre noch schlimmer als der Tod! Haben Sie Einsicht. Meine Zukunft und Adelheid’s Ruf hängt daran, daß ich ohne Aufsehen fortkomme, Sie werden mich entfliehen lassen – wenn ich Ihnen mein Ehrenwort gebe, mich Ihnen in M*** zu stellen, sobald Sie mich aufsuchen!“
„Was?“ rief der Candidat. „Nur dem Greis gegenüber
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 259. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_259.jpg&oldid=- (Version vom 10.1.2019)