Verschiedene: Die Gartenlaube (1870) | |
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worden war, ergoß sich unaufhaltsam über die Schuldigen. „Mutter,“ schrie er, „Du sollst nicht mehr meine Mutter sein, Du sollst nicht mehr beim Vater bleiben – bei diesem guten lieben Vater. Mutter, geh, geh – ich kann Dich nicht mehr lieb haben, ich kann Dich nicht mehr sehen –“
„Alfred,“ rief Egon, „schweig, oder –“
„Nein, ich schweige nicht – Du hast mir nicht zu befehlen, noch zu verbieten, das kommt nur meinem Vater zu – und Gott sei Dank, noch habe ich meinen Vater, meinen guten, eigenen Vater! Und das sage ich Dir, Onkel Egon, ehe ich Dich an seiner Statt annähme, eher erwürgte ich Dich!“
Ein erstickter Schrei entrang sich dem Knaben, Egon hielt ihm mit Gewalt den Mund zu, er mußte dem Sinnlosen jedes weitere Wort abschneiden, hier handelte es sich einfach um seine ganze Existenz. Aber auf’s Aeußerste gebracht, sprang der überreizte Knabe an Egon hinauf und umklammerte mit beiden Händen so fest dessen Kehle, daß ihm fast die Luft ausblieb. Die Wuth, das Fieber gaben dem Kranken übernatürliche Kräfte, er war nicht abzuschütteln, nicht loszureißen, bis er selbst, wie die Biene, wenn sie gestochen hat, halb todt zu Boden fiel.
Eine lautlose Stille trat jetzt ein. Da war nichts mehr zu reden.
Feldheim legte Alfred auf das Bett. Der Freiherr stand bleich und still dabei. Sein schönes Greisenantlitz leuchtete geisterhaft im Schimmer des Mondes, der das Gemach erhellte. Sein Auge ruhte auf seiner Frau, die wie vernichtet zu seinen Füßen lag. Da regte sich Alfred wieder und rief leise nach seinem Vater. Der alte Herr winkte Egon, Adelheid aufzuheben. „Ich bitte, verlaßt mein Kind!“ sagte er mit einer milden, aber königlichen Würde.
Dieses „Mein Kind“ traf Adelheid tief in’s Herz. Aber sie wagte keine Einsprache. Egon hob Adelheid auf. Als er sie bis zur Thür gebracht, riß sie sich los und kehrte noch einmal zu ihrem Gatten zurück. „Vergieb!“ rief sie in Verzweiflung.
Er schob sie sanft von sich: „Schone das Kind, es bedarf der Ruhe! Ich werde Dir heute Nacht schreiben.“ Er winkte nochmals mit der zitternden Hand, sie verließ schluchzend das Zimmer.
Als sich die Thür hinter Adelheid und Egon geschlossen, streckte der alte Mann die Arme aus. „Feldheim!“ Er wankte. Der Candidat stützte ihn, sich selbst kaum mehr haltend. „O Feldheim!“ sagte der Freiherr und aus den alten Augen brachen Thränen. Es schnitt Feldheim in’s Herz, denn er wußte, daß diese Thränen nichts mehr trocknen werde! So standen sie stumm an einander gelehnt, der alte und der junge Mann mit den gleichen Empfindungen, Beide hatten Schiffbruch gelitten, der eine so nahe dem Hafen der ewigen Ruhe, in die er eingehen sollte, der andere auf hoher See.
„Vater,“ sagte Alfred, „nicht wahr, Du und ich und Herr Feldheim, wir bleiben von nun an allein beisammen? Herr Candidat, schließen Sie die Thür ab, daß die Mutter – daß Niemand mehr hereinkommt.“
„Mein Sohn,“ begann der Freiherr und setzte sich zu Alfred. „Sag’ mir, was hast Du heute erlebt, das Dich so gegen Deine Mutter aufbrachte? Ich muß das wissen, denn es hängt viel davon ab!“
„Vater – das kann ich Dir nicht sagen!“
„Warum nicht?“
„Weil – weil – ach, frage mich nicht!“
„Doch, mein Sohn – ich muß Dich fragen – Du mußt antworten – Du weißt nicht, um was es sich handelt. Gieb mir klaren Bescheid. Wo sahst Du Deine Mutter zuletzt?“
„Im Pavillon.“
„Und Onkel Egon?“
Der Knabe warf sich mit dem Gesicht nach der Wand: „Auch dort!“
„Fragen Sie weiter,“ sagte der Freiherr zu Feldheim, „ich – kann nicht mehr!“
Feldheim hielt sich mit beiden Händen am Fußende des Bettes. Er mußte sich erst sammeln, dann frug er: „Wie kamst Du in den Pavillon?“
„Ich hatte mich dort versteckt, weil ich sie kommen hörte und nicht mit ihnen reden wollte.“
„Und da hörtest Du Alles mit an?“
„Ja!“
Die Bettpfosten ächzten unter dem Druck des schweren Mannes, so klammerte er sich daran fest. „Was sprachen sie?“
Alfred schwieg.
„Sprachen sie von Liebe?“
„Ja!“
„Und von – von einer späteren Vereinigung?“
„Ja – wenn der Vater todt sei. – O Vater – stirb nicht – o lieber, lieber Vater, verlaß mich nicht.“ Und auf’s Neue brach der wilde Schmerz in dem Kinde hervor um den greisen verrathenen Vater.
„Und – was – geschah dann? – gingen sie fort, nachdem sie das gesprochen?“ fragte der Candidat mit schwerer Zunge.
„Nein, sie blieben, ich sprang dann zum Fenster hinaus – o – laßt mich – ich sage nichts mehr!“
Alfred drückte das Gesicht in die Kissen und schwieg. Der Freiherr stand auf.
„Ich weiß genug!“ sprach er.
Feldheim bog sich über den Bettrand, immer tiefer, der Freiherr sah ihm befremdet zu und faßte ihn an der Schulter – da stürzte er zusammen, er war besinnungslos.
„Armer Mann!“ sagte der Greis und half dem Taumelnden auf. Sie verstanden sich einander.
Alfred fragte erschrocken, was es gebe.
Feldheim setzte sich still neben ihn, er hatte rasch die jahrelang geübte Selbstbeherrschung wiedergefunden.
Der Freiherr ließ ihn sich erholen, dann winkte er ihn zu sich in einige Entfernung von dem Bett. „Herr von Feldheim,“ sagte er leise und feierlich, er hatte ihn noch nie so genannt: „Herr von Feldheim – ich ersuche Sie, mein Secundant zu sein.“ Feldheim verneigte sich, aber es schnürte ihm den Hals zu, er brachte kein Wort heraus. „Ich bitte Sie, heute Nacht noch dem Grafen meine Forderung zu bringen, morgen früh muß das Duell stattfinden. Bleiben Sie einstweilen bei Alfred, bis er schläft, dann kommen Sie zu mir. Ich gehe einstweilen, denn ich habe noch viel zu thun, um bis morgen mein Haus zu bestellen.“ Er näherte sich dem Bett, Alfred lag mit geschlossenen Augen, er war eingeschlafen. Salten kämpfte einen Augenblick mit sich, ob er ihn wecken sollte zum Abschied – vielleicht zum letzten. Nein, der Kranke brauchte so nöthig die Ruhe – er brachte es nicht über’s Herz ihn zu stören – lange, lange hing sein Auge liebend und segnend an dem Kinde, dann schlich er leise vorüber, der Thür zu.
Da erwachte Alfred. „Vater,“ rief er ängstlich, „so willst Du fort von mir? Ohne einen Kuß zur Gutenacht?“
„Ich wollte Dich nicht wecken und wollte auch zur Ruhe gehen. Mein Kind, mein liebes Kind, daß Gott der Herr Dich segne und behüte“ – er konnte nicht weiter sprechen, er legte die Hand auf des Knaben Haupt und betete still. „Versuche nun fortzuschlafen – mir zu Liebe, nicht wahr?“ bat der Freiherr gefaßter.
„Ja, ich verspreche es Dir!“
„Nun denn – gute Nacht, mein Sohn!“
Alfred erhob sich im Bett auf seine Kniee, um den Vater besser umfangen zu können. „Vater, weinst Du?“
„Nein, ich bin nur müde. Schlaf wohl!“
„Vater, ich weiß nicht, warum mir auf einmal so weh wird,“ sagte Alfred und schlang seine Arme fest und fester um den Greis. „Vater, ich hab’ Dich so lieb! Bleib’ bei mir!“
„Wenn ich könnte“ – seufzte der Freiherr tief auf. „Ich kann ja nicht! Sei mein braves Kind – und gönne Deinem alten Vater die Ruhe –!“
„O ja, ich gönne sie Dir!“ sagte Alfred sich bezwingend. „Gute Nacht, lieber Vater!“
„Gute Nacht, Du treues Kind!“ und die verschlungenen Arme lösten sich und Herz riß sich vom Herzen.
Die Thür hatte sich hinter dem Freiherrn geschlossen, und Alfred lag in seinem Bett und weinte still. Der Candidat stand am Fenster und sah in die Nacht hinaus. Ein Sturm hatte sich erhoben und strich sausend und wehklagend über den See her um das Haus. Und wie jede äußere unbestimmte Erscheinung so leicht mit unserer Seelenstimmung zusammenfließt, so war es Alfred in diesem trüben Augenblicke, als sängen die verworrenen Stimmen des Windes einen Choral, und er klang wie die Melodie des besten Liedes, das ihn seine Mutter gelehrt: „Es ist bestimmt in Gottes Rath, daß man vom Liebsten, was man hat, muß
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 242. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_242.jpg&oldid=- (Version vom 10.1.2019)