Verschiedene: Die Gartenlaube (1870) | |
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Ihr’s herabstürzen sehen? Allmächtiger Gott, kann denn Keiner etwas thun? Onkel Egon, schaffe Rath, rette, rette, Du bist ein Johanniter, es ist Deine Pflicht, Du hast darauf geschworen; wer soll denn helfen, wenn Du es nicht thust?“
„Ich thue, was ich kann, hier kann ich nicht helfen,“ sagte Egon.
„Herr Feldheim, wo sind Sie?“ schrie Alfred und sah sich nach dem Candidaten um. Der war eben dabei, mit eigenen Händen einen zweiten Verschütteten herauszuschaffen. „Auch diese haben ein Recht auf unsere Hülfe,“ sagte er und bog sich zu dem Verunglückten nieder, der noch zu leben schien.
Alfred schlug sich mit den Fäusten vor die Stirn, indeß Thränen ohnmächtiger Wuth über seine Wangen strömten. „O, daß ich ein Krüppel sein muß, ein Krüppel! Wäre ich gesund und stark wie Ihr, mit Händen und Füßen an der geraden Wand arbeitete ich mich hinauf, dem Kinde zu helfen. Ach, ich kann’s ja nicht, kann’s nicht, ich elender erbärmlicher Schwächling!“
Und außer sich vor Verzweiflung warf sich der Knabe zur Erde, seine Glieder zuckten, seine Pulse jagten, er war wie ein Wahnsinniger.
„Hilf Gott, sie hält sich nicht mehr!“ schrie jetzt Frau Hösli auf. Aennchen hatte eine Bewegung gemacht, als wollte sie den Balken loslassen.
„Breitet Decken unter, Betten her!“ rief der Großvater; und ein Trupp rannte nach den Villen, um das Verlangte zu holen.
„Das dauerte zu lang – es ist zu weit bis nach den Häusern,“ schrie Alfred. „Ich weiß, im Keller hier unten liegt die rohe Seide. Schafft die herauf. Schnell, schnell!“
Er eilte Allen voran nach der Stelle, wo die Kellertreppe lag, aber sie war zusammengestürzt und die Seide in einer Tiefe von etwa fünfzehn Fuß nicht mehr zu erreichen.
„O mein Gott, Aennchen, nichts, gar nichts kann ich für Dich thun!“ fieberte Alfred. „Wir wollen sie auffangen, Leute, wenn sie stürzt, kommt hierher;“ er stellte sich neben Frau Hösli und ihre Söhne und breitete die schwachen Arme aus. „Kommt, stellt Euch nebeneinander hierher, so muß sie uns in die Arme fallen.“
Es lag eine Kraft in dem Befehl, den der Knabe gab, eine Kraft des Willens, daß Männer und Jünglinge ihm unwillkürlich Folge leisteten. Eine Gruppe bildete sich um die Knaben und Frau Hösli her, auf’s Gerathewohl das stürzende Kind zu fassen.
Frau Hösli konnte nicht mehr sprechen, nicht mehr athmen. Es war ein Tosen und Donnern in ihren Ohren, als brächen Lawinen über sie herein, es waren die Schläge ihres eigenen Herzens. Ewigkeiten waren die Secunden, Ewigkeiten lagen zwischen dem Tode ihres Sohnes und jetzt! Es war eine dunkle, längst verklungene Erinnerung, daß man einst ihren Aeltesten todt aus den Trümmern gezogen. Zwischen dem Vorhin und dem Jetzt lag eine Kluft in ihrem Geist, die nichts ausfüllen konnte. Es gab für sie keine Vergangenheit, keine Zukunft mehr – nur noch eine Höhe und eine Tiefe, die ihr noch lebendes Kind zu durchmessen hatte, ehe es zerschmettert zu ihren Füßen lag! Und jeder Nerv in ihr drehte sich zu einem Strick, das Kind da oben festzubinden, und ihre Arme wuchsen immer länger und länger, bis sie hinaufreichten, das Kind zu fassen, und doch blieb Alles, wie es war, und wieder zogen Ewigkeiten über ihrem Haupte und sie wußte nichts mehr, als daß keine Rettung sei, keine Rettung!
Da plötzlich erhob sich ein unbeschreiblicher Tumult. „Herr Gott, der Mohr, der Mohr!“ kreischte es durch die Reihen und Alles drängte nach einer Richtung hin, wo etwas Unerhörtes geschehen mußte, denn die Menschen waren wie die Rasenden. Schreck und Freude zugleich hatte sie wie im Wirbelwind erfaßt. Weiber fielen auf die Kniee und beteten laut.
Da oben, schon in der Höhe eines Stockwerks, hing ein Mann an der nackten Mauer, das braune Gesicht und die athletische Gestalt war unverkennbar, es war Frank.
Die Mauer war in schräger Richtung von oben nach unten geborsten, der Riß neigte sich oben nach dem Balken zu, der Aennchen trug. Er war so weit, daß eine Hand und ein Arm sich allenfalls hindurchzwängen konnte, weiter oben waren streckenweise ganze Quader ausgebrochen und die Durchschnittskante der Mauer bildete einen schmalen schwindelnden Pfad zwischen zwei Abgründen diesseits und jenseits.
Mit der Behendigkeit und Geschmeidigkeit einer Katze klomm der Neger empor, nicht von Schritt zu Schritt, sondern von Hand zu Hand sich aufwärts windend. Schwankend hing der wuchtige Körper an den langen Armen, deren Muskeln sich gleich lebendigen Schlangen dehnten und zusammenzogen, und das den Negern eigene röchelnde Keuchen klang schaurig durch die Stille bei der furchtbaren Arbeit um Leben und Tod.
Still, grabesstill war es ringsumher geworden; ein Geräusch, ein Laut konnte ihn wecken und herabschleudern, den Nachtwandler, der am hellen Tage träumen mußte, einen Traum von Liebe und Treue, von Muth und Kraft, wie ihn noch Keiner geträumt von Allen, die da standen. Und wie wir mit geheimem Grauen alles Das anstaunen, was weit über die Grenzen unseres Denkens und Fühlens hinausreicht, so graute den weißen Menschen da unten in der Tiefe vor dem Schwarzen, dem Halbmenschen, der da oben über ihnen schwebte in schwindelnder Höhe ohne einen anderen Halt als die Spalte, in die er seine Hände einklemmte, und ohne einen Ruhepunkt als dann und wann die Höhlung eines ausgebrochenen Steins oder das Bruchstück eines vorstehenden Gebälks, worauf er knapp den Fuß setzen konnte.
Das arme beschränkte Gehirn reichte wohl nicht so weit, um sich der Gefahr völlig bewußt zu sein, in die es sich stürzte; es reichte wohl nicht weiter, als um in dem Mauerriß den Weg zu sehen, auf dem das Kind zu erreichen war, und es machte zur That, was es dachte, ohne weiter zu grübeln. Wie ein Hund seinem Herrn nachkriecht schwindelfrei an Abhängen hin, wo noch ein Fleck ist, auf den er treten kann – so kroch er einfach, der treue Thiermensch, den Spuren seiner kleinen geliebten Herrin nach, und die Träger der Civilisation da unten sahen zu, und der Herzschlag stockte ihnen und der Athem ging ihnen aus, sie mußten mit den Füßen den Boden stampfen, um sich zu überzeugen, daß er fest sei und nicht mit ihnen hin und her schwanke!
Und Frau Hösli, die Mutter, wer beschreibt, was sie fühlte! Die Frau, vor deren verglastem Blick sich das wunderbare Schauspiel aufthat, tödtete beinahe die Angst, die größte, bitterste, die Angst der Hoffnung – einer Hoffnung, die an einem Haare hing, einer Hoffnung, deren Scheitern sie nicht überleben würde! Und sie schaute und schaute von ihrem Kinde auf den Retter und von diesem auf ihr Kind; denn während sie nach dem einen blickte, konnte das andere herabstürzen. Ihre Augen waren nicht schnell genug, von einem zum andern zu fliegen, wie sie es gewollt. Ihr Herz war schneller, seine Schläge waren nicht mehr zu zählen, es that in diesen wenigen Minuten die Schläge vieler Jahre. Jetzt war Frank im dritten Stock angelangt und nun kam die offene Stelle in der Mauer. Auf einem vorspringenden Balken rastete er ein wenig und wischte sich das Blut von den Händen und den Schweiß von der Stirn. Dann wieder – auf! und weiter ging’s auf der tödtlichen Bahn dem Gipfel zu. Jetzt konnte er endlich mit Händen und Füßen klimmen, und rascher als bisher in mächtigem Anlauf kletterte er an der freistehenden geschrägten Kante der Mauer hinauf.
„Er ist oben,“ flüsterten die Menschen athemlos, „er ist oben,“ wiederholten die Lippen der Mutter, und ein Zittern überflog den erstarrten Körper, daß man ihre Zähne auf einander schlagen hörte.
Er ist oben! Aber was wird er nun beginnen? Es ist eine Strecke von drei, vier Fuß hinüber zu dem Kinde. Dicht bei dem Balken, wenig entfernt von der Stelle, wo Frank hängt, ist eine leere Fensterhöhle. Seine Arme können sie erreichen; er umfaßt das Mauerstück, das ihn von ihr trennt, und schwingt sich hinüber. Jetzt hat er festen Fuß gefaßt, er setzt sich rittlings auf das Gesims.
Was nun?
Auf den Balken hinauszutreten, der Aennchen trägt, wäre Wahnsinn!
Er macht einen Strick los, den er um den Arm gewickelt hat, an dessen Ende ist ein großer Stein. Niemand weiß, was er damit will. Er spricht mit Aennchen, aber man kann es nicht bis hinunter verstehen. Was will er mit dem Stricke?
Frau Hösli allein weiß es. Sie hat ja als Kind so oft zugesehen, wie sich der wilde Knabe mit den andern Negern im Werfen des Lasso übte. Eine Ahnung dämmert ihr auf. Frank hat den Strick gelöst, er läßt ihn mit dem Steine ein paarmal prüfend hin und her schwingen. Er ruft Aennchen zu, sich festzuhalten nur noch einen Augenblick, aber recht fest!
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 180. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_180.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)