Verschiedene: Die Gartenlaube (1870) | |
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in langgezogenen Tönen, daß es schneidend durch den weiten Raum schrillte, und streckte die Arme nach dem Ufer aus, daß das Fahrzeug schwankte.
„An’s Land, Frank,“ befahl sie, als könne der Befehl die Ruder beschwingen, „schneller, schneller – hier leg’ an – nicht erst an die Stufen. Halt nur, halt!“ Ehe noch das Boot anlegen konnte, sprang sie heraus, daß sie bis über die Brust in das schlammige Wasser versank, und watete den Strand hinauf. Sie ging nicht, sie flog. Sie sollte schon dort sein, warum war sie es nicht? Sie war ja noch gar nicht von der Stelle gekommen, da stand sie auf demselben Fleck, wo sie das Ufer erklommen und konnte nicht weiter, ihre Kleider waren so schwer, ihre Füße wie Blei – aber ihr Sohn, ihr Sohn lag da drüben unter dem Schutt – sie mußte vorwärts! – Es ging nicht, es dunkelte ihr vor den Augen, die Kräfte verließen sie, sie brach in die Kniee, sie hatte ein Gefühl, als sei sie nun klaftertief in die Erde eingerammelt wie ein Pfahl und Niemand könne sie mehr herausziehen.
„Mistreß, Mistreß!“ tönte ihr Frank’s Stimme in’s Ohr und sie kam wieder zur Besinnung. „Frank, guter Frank,“ flehte sie in ihrer Muttersprache, „heb’ mich auf, ich kann nicht weiter, führe mich, trage mich hin – nur schnell, nur hin, hilf, Frank, hilf mir vorwärts!“
Und Frank hob die schwere erlahmte Gestalt vom Boden auf und schleppte sie weiter, halb geführt und halb getragen durch den Garten dem Schreckensorte zu. „Ach Gott, die Frau!“ schrieen die Leute, als man sie kommen sah.
Da lag es vor ihr, das stolze Werk des Gatten und des Sohnes, ein Trümmerhaufen. Die ganze schöne Front war weggerissen, das Innere lag offen da, es war nichts mehr als ein hohler Raum und nur die Rück- und Seitenwände ragten geborsten mit leeren Fensterhöhlen in den blauen Himmel hinein. Wie ein gefälltes Ungeheuer lag der Rumpf des gesprungenen Kessels weit hinausgeschleudert am Rande der Straße, und eingehüllt in Wolken von Staub zwischen Schutt und Trümmern wühlten und gruben lärmende, jammernde Menschen herum, um herauszuschaffen, was darin begraben war. Aus dem Chaos ragte eine hohe dunkle Gestalt hervor, um die sich Alle schaarten, und ordnete an und griff zu wie Keiner. Es war der Candidat. Mit eigenen Händen hob er Bretter und Balken ab, die kaum zwei Mann von der Stelle brachten, und die geschlossenen Lippen öffneten sich nur zu einem knappen bestimmten Commandoruf, womit er die schreckliche Arbeit leitete, die hoffnungslose Arbeit, den eigentlichen Kern des Unglücks herauszuschälen, die Leiber der Erschlagenen.
„Mein Sohn!“ schrie Frau Hösli und brach sich an Frank’s Seite Bahn durch die dichtgedrängte Masse. „Mein Sohn?“ fragte sie nochmals und Jeder wußte, was sie meinte, aber die furchtbare Antwort war ihm erspart, denn in diesem Augenblick bildete sich ein dichter Knäuel auf dem Schutt und es war ein Bücken und Köpfezusammenstecken.
„Sie haben Einen gefunden,“ murmelte es schreckenbleich durch die Reihen.
„Wen?“
Es war, als wollte Keiner mit der Antwort den Jammer wecken, der nun gleich aus dem geheimnißvollen Knäuel hervorbrechen mußte.
„Lebt er?“ fragte es wieder aus tausend Kehlen zugleich und wieder wagte es Keiner zu antworten.
„Ach, die arme Frau, die arme Frau!“ hörte Frau Hösli es um sich her jammern; war sie damit gemeint?
Sie wußte nichts mehr, als daß sich ihr eine Hecke abwehrender Arme entgegenstreckte, die sie durchbrechen mußte, und „hilf mir, Frank,“ sagte sie noch und dann verstummte sie. Die Hecke hatte sich aufgethan, vier Männer trugen ihr einen verhüllten Körper entgegen.
„Ist er’s?“
„Er ist’s!“
„Die arme Frau, die arme Mutter!“ und ein lautes Schluchzen ging durch die Menge.
Frau Hösli aber weinte nicht. Sie lag still auf der zerschmetterten Brust ihres Sohnes, auf den Trümmern ihres stolzen Glücks und Keiner hörte ein Wort, einen Laut der Klage von ihr.
Aber das Maß dessen, was sie ertragen sollte, war noch nicht voll.
„Um Gotteswillen,“ erscholl plötzlich eine zarte Stimme, „hört denn Niemand in dem Lärm Aennchen schreien, sieht denn Niemand, wo Aennchen ist?“ Und Alfred hinkte athemlos, fliegenden Haares herbei und winkte und rief und stürzte taumelnd dem Candidaten in die Arme. „Aennchen – da oben – Hülfe!“
„Aennchen?“ zuckte es jetzt wie ein elektrischer Schlag durch das erstarrte Herz der unglücklichen Mutter, sie hatte ja noch mehr zu verlieren! – „Noch mehr – mein Gott, noch mehr?“ Sie schnellte empor und jede Muskel spannte sich an zur Hülfe für ihr Kind. Hülfe? wenn diese noch möglich war!
Und Alle blickten nach der Richtung, wo Alfred’s zitternde Hand hinwies – zur Niobe versteinert starrte Frau Hösli hinauf.
Da oben hing Aenny und hielt mit beiden Armen einen der geknickten Balken umklammert, deren Enden noch hie und da aus der Mauer hervorragte. Wie durch ein Wunder mußte es der Kleinen gelungen sein, beim Einsturz des Speichers denselben zu erfassen. Da hing sie, über ihr der blaue Himmel, der durch das Gebälk des abgehobenen Daches hereinschaute, unter ihr eine Tiefe von vier Stockwerken und rings um sie her nichts, als ein öder leerer Raum. Eine Bewegung, ein Nachlassen ihrer Kräfte und sie war verloren! –
Jetzt erst legte sich das dumpfe Brausen und Tosen so vieler aufgeregter Menschen, und man konnte nun hören, wie das Kind um Hülfe wimmerte.
„Leitern, Leitern herbei!“ schrie Frau Hösli und stürzte sich wie eine angeschossene Löwin durch die Gruppe hindurch nach der Stelle, über der das Kind hing.
„Leitern, Leitern!“ brüllte der Haufe durcheinander.
„Keine Leitern da!“ heulte, fluchte, wüthete es durch die wogende Masse, die von Zürich her immer mehr anzuschwellen begann.
„Die Feuerwehr ist ja aufgeboten, die bringt Leitern!“
„Und bis dahin kann mein Kind herabgestürzt sein!“ schrie Frau Hösli, „helft, Leute, helft; wer mir das Kind lebend da herunter bringt, soll fordern, was er will: wenn ich’s besitze, soll er’s haben!“ beschwor sie die zögernde rathlose Menge.
„Ja, wer soll da hinauf ohne Leiter? da ist gut versprechen,“ murrten die Burschen.
„Aber, mein Gott, es werden doch Leitern in der Fabrik gewesen sein?“ rief ein neuer Ankömmling, es war Egon.
„Ja, es sind schon welche da, aber sie sind zu kurz, wenn man sie auch zusammenbindet,“ sagten ein paar Männer, die alles, was in der Art vorhanden war, herbeischleppten. „Und wenn wir auch Leitern hätten, die lang genug wären –“ überlegten die Männer, „was hülf’ es? Das Kind ist zu weit nach der Mitte hin von der Wand aus kann man’s nicht erreichen und wer will auf dem schmalen Balken hinkriechen, der vielleicht kaum das Kind noch trägt, geschweige einen Erwachsenen?“
Was war zu machen? Wenn man die Leiter an den Balken selbst anlegte, so konnte er brechen, bevor der Helfer halb oben war, das Kind und der Mann wurden hinabgeschleudert und rettungslos zerschmettert. Wer konnte wissen, ob und wie fest die zerbröckelnde Mauer, in welcher der Kopf des Balkens steckte, diese noch hielt? Er hatte ohnehin schon eine bedenkliche Neigung nach abwärts.
Was war zu machen?
„Herr Gott, erleuchte uns!“ betete eine alte rührende Stimme. Es war die des Großvaters. Auch er wußte keinen Rath.
Ein neuer Jammerschrei unterbrach das angstvolle Schweigen. Aennchens Brüder hatten sich endlich von der Straße her durch das Gewühl durchgearbeitet. Die Knaben waren wie vom Strafgericht Gottes getroffen, denn sie wußten, daß sie Aennchens Mörder waren, wenn das Entsetzliche geschah. Bleich und still fielen sie neben ihrer Mutter nieder und verbargen das Antlitz in den Falten ihres Kleides.
„So will denn Keiner helfen, Keiner?“ schrie Alfred.
„Wir wollten ja gerne, wenn wir nur wüßten, wie?“ klagten die Leute.
Alfred war wie verwandelt. Seine Augen funkelten, seine Wangen glühten, sein ganzes Wesen flammte auf. „Seid Ihr Männer?“ schrie er und stampfte mit den Füßen. „Seid Ihr Männer? Wollt Ihr das Kind da oben hängen lassen? Wollt
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 179. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_179.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)