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Seite:Die Gartenlaube (1870) 147.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

sah ihn an mit der ganzen Macht ihrer Anmuth: „Wollen Sie mir etwas zu Liebe thun, das Einzige, um was ich Sie bitte, seit wir uns kennen?“

Der Candidat schaute in ihr kindlich flehendes Auge und auf ihre halbgeöffneten purpurnen Lippen. „Alles, was ich kann!“ sagte er mit einem tiefen Athemzuge.

„O, dann seien Sie gütig und nachsichtig gegen meinen Vetter. Er ist mit mir aufgewachsen, ist mir theuer wie ein Bruder, und was Sie ihm thun, thun Sie mir!“

Sie war so schön, so wahr, wie sie das sagte – so durchsichtig.

Dem stillen Manne ging die Seele auf, und was nicht über die starren Lippen durfte, das suchte und fand seinen Weg durch das Auge und schimmerte darin in feuchtem Glanze. Er reichte ihr die Hand und sagte: „Ich verspreche es Ihnen, gnädige Frau, soweit es sich mit meiner Ehre verträgt!“ Und er wurde schön in seiner Milde und sah so groß und göttlich auf sie herab, daß es sie durchschauerte in ihre sündhafte lustberauschte Seele hinein.

Ein Geräusch schreckte sie auf, sie zitterte, als müsse sie umsinken: Egon trat aus seinem Zimmer.




11. Mißtöne.

Wika und Egon gingen vertraulich flüsternd im Garten auf und nieder, da trat der Candidat auf sie zu und fragte bescheiden, ob sie Alfred nicht gesehen hätten.

„Das könnten wir wohl eher Sie fragen,“ sagte Wika schnippisch. „Der Erzieher sollte doch wissen, wo sein Zögling ist, dazu sind Sie ja da!“

Feldheim schoß das Blut in’s Gesicht, er bezwang sich nicht mehr. „Gnädiges Fräulein,“ sagte er stolz, „ich bemerke seit einigen Tagen, daß es Ihre Absicht ist, mich zu beleidigen. Welchen Grund Sie auch dazu haben mögen, – ich versichere Ihnen, daß Ihre Bemühungen völlig vergeblich sind; Sie werden mich keinen Fußbreit von der Bahn abrücken, die meine Pflicht mir vorgezeichnet.“

Er lüftete den Hut und ging ruhigen Schrittes nach der andern Seite des Gutes, wo ein großer Obstgarten lag, den die Hösli’s und Saltens gemeinschaftlich benutzten. Dort fand er die Kinder. Er blieb stehen und beobachtete sie unbemerkt. Aenny und Victor schaukelten sich an den Zweigen eines großen Apfelbaumes; sie hatten gewettet, wer es am längsten aushielte, und Alfred saß auf einer Bank und sah nach der Uhr, wie lange sie hingen.

„Ich kann nicht mehr,“ schrie Victor.

„Ich auch nicht,“ schrie Aennchen, und Beide fielen von ihrer Höhe zur Erde.

„Da liegen wir wie die reifen Pflaumen,“ lachte Aenny und stand auf. „Nun, Alfred, wie lange ist’s?“

„Gerade elf Minuten.“

„Das ist nicht wahr, es muß länger sein,“ schrie Victor; „Du hast nicht aufgepaßt, oder Du betrügst uns um fünf Minuten.“

„Ich lüge nicht,“ fuhr jetzt Alfred auf; „das lasse ich mir nicht sagen.“

„So, Du läßt es Dir nicht sagen? Was willst Du denn machen, wenn ich es doch thue, Du Herr von Rührmichnichtan?“

„Victor,“ sprach Alfred an sich haltend, „so wie Du hat mich noch Niemand gekränkt, und ich thue doch, was ich Dir an den Augen absehe. Wenn meine Eltern wüßten, wie Du mich behandelst, – sie würden es gewiß nicht dulden.“

„Nun, so klatsch’ es ihnen doch!“ spottete Victor. „So ruf’ doch Deinen Herrn Lehrer zu Hülfe, daß er mich statt Deiner durchprügelt, – warum thust Du’s denn nicht?“

„Weil ich meinen Gastfreund nicht verrathe und weil ich mir nicht helfen lassen will, wo ich mir selbst nicht helfen kann.“

„Ach, sei still,“ sagte Victor, „Du bist ein falscher Duckmäuser.“

„Victor,“ schrie Alfred auf, „nimm das zurück oder –“

„Nein, ich nehm’s nicht zurück,“ lachte Victor, „und wenn Du’s nicht glaubst, so will ich Dir’s auf den Rücken schreiben.“

Da hielt sich Alfred nicht länger: „Es ist das erste Mal, daß ich Jemanden schlage, aber bei Dir lernt man Alles!“ Und ehe Victor es sich versah, hatte Alfred eine kleine Baumstütze aus der Erde gezogen und führte einen machtlosen Streich nach ihm. Mit einem Griffe hatte Victor den schwachen Händen den Stock entwunden und nach einem kurzen Ringen warf er Alfred zu Boden.

Feldheim hatte vortreten wollen, aber er besann sich anders. Alfred sollte seine Sache selbst ausfechten und seine Kräfte prüfen.

Er wehrte sich vergeblich, aber tapfer, kein Schrei entrang sich seinen Lippen, als der Gegner ihn bezwungen hatte und ihm einen Streich versetzte.

„Pfui, Victor,“ schrie jetzt Aennchen, „schlagen darfst Du ihn nicht, das leid’ ich nicht! Und auch nicht auf ihn knien, das thut ihm weh auf seiner schwachen Brust. Laß ab, sag’ ich, oder ich spiele nie mehr mit Dir!“ schrie sie und riß den wilden Jungen von Alfred weg. „Komm, Alfred, setz’ Dich auf die Bank und verschnauf’ ein wenig. Was läßt Du Dich auch mit dem großen Jungen ein, wenn Du seiner doch nicht Meister wirst!“

„Du hast Recht,“ sagte Alfred bitter. „Ein Schwächling wie ich muß sich Alles gefallen lassen.“

„Weißt Du was, Alfred,“ sagte Aennchen. „Geh’ lieber nach Hause, wir spielen jetzt gleich Krieg; wenn meine Brüder aus der Schule kommen, da kannst Du doch nicht mitmachen.“

„Wie Du willst, Aennchen; ich will Euch nicht geniren!“ Und Alfred ging.

Als er so gesenkten Hauptes dahinschritt, traf er auf den Candidaten, der scheinbar von ungefähr des Weges kam.

„Was ist Dir, Alfred, wo gehst Du hin?“ fragte dieser, als wisse er von nichts.

„Sie wollen Krieg spielen, und da tauge ich doch nicht dazu.“ Er erhob seine großen schwermüthigen Augen zu dem Candidaten. „Ich passe nicht zu den Kindern, ich bin ihnen nur im Wege. Mir ist nirgends wohl als bei Ihnen.“

Feldheim zog ihn an seine Brust und die Thränen perlten still aus des Kindes Augen darauf nieder. „Aennchen mag mich auch nicht mehr; Victor hat mich ganz bei ihr ausgestochen, weil er so stark und muthig ist. Ich muß mich immer vor ihm schämen,“ klagte Alfred leise, als sie weiter gingen.

Feldheim schmiegte die kleine zarte Gestalt des Knaben fest an sich. „Alfred,“ sagte er, „sei getrost. Ich habe Euch beobachtet, ohne daß Ihr’s ahntet, und Dein starker Vetter hat sich benommen wie ein ungezogener Bube, Du aber benahmst Dich wie ein Mann, das war der Unterschied zwischen Euch, und wenn sich Einer zu schämen hat, so ist er es, nicht Du!“

Alfred schüttelte traurig den Kopf. „Es muß anders mit mir werden, das ist mein fester Entschluß.“

Der Candidat that einen kurzen Athemzug. „Ich wollte, diese Fremden wären nie zu uns gekommen,“ murmelte er zwischen den Zähnen.

Wochen waren verstrichen, Partien gemacht und bei schlechtem Wetter Whist gespielt worden, dieser treffliche Ersatz für alle mangelnde geistige Unterhaltung. Aber es wollte sich kein rechtes Behagen zwischen den Gästen und ihren Wirthen einstellen. Egon hatte eingewilligt, Hösli’s zu besuchen, da ihm Victor erklärte, er langweile sich so mit dem unausstehlichen Alfred, daß er lieber heute als morgen abreise; dem Knaben mußte Unterhaltung geschafft werden selbst um den Preis einer gesellschaftlichen „Inconvenienz“, wie der Verkehr mit Hösli’s.

Man wurde auch zu dem großen Feste geladen, welches Herr Hösli der Eröffnung seiner neuen Fabrik und seinem Sohne zu Ehren am Jahrestage von dessen Rückkehr in’s Vaterhaus veranstaltete. Hier traf man endlich den Züricher Adel, aber er bestand auch nur aus Geschäftsleuten im Genre der Hösli, schöne stattliche Leute von tadellosen Manieren, aber – Seidenspinner, Baumwollwirker und dergleichen mehr!

Das Fest war gut in Scene gesetzt, aber es erlitt eine bedenkliche Störung durch einen Verstoß des jungen Hösli, der große Sensation erregte. Der ganze hohe Cantonsrath war bei dem Diner zugegen und hatte einen Toast auf den aus der Fremde zurückgekehrten Sohn des alten geehrten Hauses Hösli ausgebracht mit dem Wunsch, der ausgezeichnete junge Mann möge seinem Vaterland durch ein langes gesegnetes Leben zu „Ehr und Vorbild“ gereichen.

Es war ein feierlicher Moment, und Vater und Mutter hatten die Thränen in den Augen, und der Großvater legte die zitternde Rechte auf des Enkels Haupt und sagte leise: „Werd’ brav, Deine Eltern verdienen’s um Dich!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 147. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_147.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)