Verschiedene: Die Gartenlaube (1870) | |
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Betreffenden ganz nahe vor der Küchenthür gestanden seien und es gehört haben mußten. Nun war dem Freiherrn alles klar und seine edle Natur empörte sich gegen die Beleidigung, die den ehrenhaften Leuten in seinem Hause widerfahren war. Er stellte Wika scharf zur Rede. Das gab ein paar böse Tage in der Familie Salten! Am schlimmsten war die arme Lilly dran, die sich gar nicht mehr vor den Schwestern sehen lassen durfte, ohne gerupft zu werden wegen ihrer Klatscherei. Das Nachmittagspiket wurde eine gelinde Marter für den Freiherrn und der Candidat wußte kaum, wie er Alfred vor den widerlichen Eindrücken behüten sollte, die solch eine keifende zankende Umgebung auf ein Kindergemüth machen mußte.
Adelheid aber verlor in diesem Leben und Treiben vollends Geduld und Muth. „So hat kein Sterblicher sich je die Wonnen des Paradieses ausgemalt,“ schrieb sie an den Grafen Schorn, „wie ich mir die Wonne denke, im Frieden Deines Herzens auszuruhen von all’ dem ekelerregenden Gezänk meiner Umgebung und all’ der Sorge und Angst um mein dahinsiechendes Kind! O Gott, nur eine Freude, nur eine Stunde der Erholung, wenn ich nicht zusammenbrechen soll! Ich bin ja nur ein schwaches Weib, und was man mich ertragen läßt, wird endlich unerträglich! Wenn ich nicht den Candidaten hätte, der mich aufrecht hält“ – doch halt, was schrieb sie da? Wie konnte man sich so verschreiben! Sie radirte den „Candidaten“ sorgfältig aus und machte „Glauben“ daraus – das paßte auch, das hatte sie auch ursprünglich schreiben wollen! –
Der Freiherr, stets bereit, ein Unrecht wieder gut zu machen, gab den Hösli’s sehr bald mit Adelheid ihren Besuch zurück, und die ruhigen Leute zeigten keinerlei Empfindlichkeit mehr. Herr Hösli hatte allerdings die Aeußerung Wika’s gehört und mit Bezug darauf gesprochen, was er seinem Stande schuldig zu sein glaubte; nun war aber auch genug geschehen und die ganze Sache viel zu gleichgültig, um noch weiter daran zu denken. Herr Hösli namentlich hatte seit Rückkehr seines Sohnes den Kopf voll von Plänen und Geschäften. Heiri hatte einen gewaltigen Dampfkessel neuester Construction aus England mitgebracht. Die Fabrik wurde nun in ungeheurem Maßstabe vergrößert. Der junge Mann war ein Genie in seinem Fache, er hatte die Prüfung über alle Erwartung gut bestanden, er kam als ein Ingenieur ersten Ranges und dabei als ein ausgelernter Kaufmann aus England zurück. Wie hätte einem Vater da nicht das Herz schwellen sollen vor Stolz? Wie sollten nicht alle die kleinen Kümmernisse um des Sohnes entfremdetes Wesen in den Hintergrund treten vor der grenzenlosen Freude über ein Kind so außerordentlicher Art?
Eine ganz neue Aera that sich in dem Leben der Familie auf. Bisher hatte sich Herr Hösli-Pallender mit dem bescheidenen Ruhme, ein streng rechtlicher und geschickter Kaufmann zu sein, begnügt; jetzt aber erfaßte den sonst so ruhigen Mann ein Ehrgeiz, den er nie gekannt: durch seinen Sohn sollte der Name Hösli nicht nur in der Schweiz, nein, in der ganzen industriellen Welt ein epochemachender werden. Das Geldinteresse, die geschäftliche Speculation des einfachen Handelshauses sollte sich plötzlich aufschwingen an der Hand eines schöpferischen Genius! Und dieser Genius war sein Fleisch und Blut, der Erbe seines Namens, der Zögling seiner Schule. „Der Hösli-Pallender hat die größte Fabrik und den tüchtigsten Sohn im Lande!“ so sollte es durch die ganze Schweiz wiederhallen. Kein König war glücklicher als Herr Hösli. Es war ein Ereigniß, welches ganz Zürich beschäftigte, daß der Hösli-Pallender nun doch baute, die halbe „Enge“ ankaufte, um aus den kleinen Häusern ein einziges Riesengebäude zu machen. Es war ein Gewühl und ein Leben in der „Enge“ am See, daß Alfred, der Alles still beobachtete, an den Ameisenhaufen erinnert wurde, den der neuliche Regen aufgerührt. Und er dachte, daß die Thätigkeit solch eines reichen mächtigen Mannes wie ein befruchtender Regen über das Land komme und eine Menge kleiner Geschöpfe aus ihrer stumpfen Gewöhnung aufstöbere und in neue Bewegung setze. Die Handwerker und Krämer, deren Häuser Hösli gekauft, zogen aus mit all ihrem Plunder. Es ward geklopft und gestäubt, Handwägelchen fuhren mit wurmstichigen Bettstellen und dreibeinigen Stühlen hin und her, Männer schleppten den kleineren Hausrath fort, Frauen rafften noch einen oder den andern vergessenen alten Trödelkram zusammen. Es war eine förmliche Auswanderung. Und kaum waren die Einwohner der betreffenden Häuser weggezogen, als auch schon mit dem Niederreißen begonnen wurde und Wolken von Staub sich herüberwälzten, daß die Büsche des hintern Gartenzaunes ganz grau aussahen.
Sommer und Herbst waren zu Ende, und mit Bewunderung sah die Familie Salten, sah ganz Zürich die Mauern des neuen Palastes, denn nur mit einem solchen war die Fabrik zu vergleichen, emporwachsen. Nicht nur aus Zürich, aus Basel und Luzern, aus allen umliegenden Cantonen waren Arbeiter aufgeboten, denn Heiri Hösli mit seinem raschen jugendlichen Blute und sein energischer Vater wollten auf amerikanische Art bauen, also schnell, wie in jenem merkwürdigen Lande, wo Eines das Andere vorwärts treibt, Alles geschieht!
Die alte Fabrik war nur ein Nebenflügel der neuen geworden, die sich jenem mit einem Mittel- und einem dem alten entsprechenden Seitengebäude symmetrisch anschloß. Der hohe prachtvolle Mittelbau trat etwas vor den andern nach der Straße zu vor bis an einen breiten Bach. Dieser sollte die große Turbine in Bewegung setzen, welche in wasserreichen Zeiten ihre Kräfte mit denen des Dampfes vereinen mußte. Hier war auch das Kesselhaus, von wo aus der Generator, der große Dampferzeugungskessel seine treibende Kraft nach allen Seiten der weitläufigen Maschinenräume gleichmäßig ausströmen konnte. Darüber befanden sich die Säle zur Aufbewahrung der fertigen Fabrikate, und unter dem Dache erstreckten sich die Speicher hin, wo Kisten, Kasten und all’ die hunderterlei Utensilien, welche in einem solchen Geschäft nur allein zur Verpackung und Versendung der Waare dienen, untergebracht werden. Unten lagen die Keller mit der Rohseide, gewaltige tiefe Gewölbe, in denen die Seide vollauf die Feuchtigkeit hatte, deren sie bedarf. Obgleich damals noch allgemein die Sitte herrschte, die Dampferzeugungsapparate in das Hauptgebäude zu verlegen, was später gesetzlich verboten wurde, hatten es doch die Hösli’s absichtlich vermieden, unmittelbar über dem Generator Arbeitersäle einzurichten, überhaupt viele Menschen in diesem Theile des Baues zu beschäftigen. Um so belebter und lauter sollte es in den Maschinenhäusern rechts und links werden. Da sollten die Transmissionen keuchen und die Spulen schnurren, die Webstühle klappern und die Winden sausen, und zwischen all’ dem unaufhörlichen Rasen und Tosen mit Gedankenschnelle sich drehender Maschinen hindurch sollten die Stimmen von fleißigen Menschen erschallen und tausend rührige Hände die Arbeit der Maschinen ergänzen und vollenden.
In dem eigentlichen Haupt- und Fabrikgebäude waren die Spinn-, Zwirn- und Webesäle, jeder zu zweihundert Arbeitern zugerichtet, die Ateliers für die Musterzeichner, die Bureaux und die Localitäten für Verpackung und Versendung der Waare. Aber auch die Hintergebäude waren vergrößert, in den ungeheueren Küchen für die Färberei sollten mehr als hundert Arbeiter beschäftigt werden, und endlich kam noch eine Schlosserei, Schreinerei und Schmiede dazu, denn das Steckenpferd des jungen Hösli war eine Maschinenfabrik, in welcher er alle bei der Seiden-Spinnerei und -Weberei erforderlichen Maschinen selbst anfertigen wollte, ein Gedanke, der dem Geschäft einen unberechenbaren Vortheil sicherte. Ein Unternehmen in solch großartigem Maßstabe mußte natürlich in die ganze Züricher Geschäftswelt einen neuen Umschwung bringen, und das Interesse für und wider war ein allgemeines. Neid und Mißgunst traf natürlich nur den Vater, den Besitzer, – aber die ungetheilte Bewunderung Aller sammelte sich auf dem Haupte des Sohnes, der dieses gewaltige Werk entworfen und ausgeführt hatte.
So standen die Hösli’s auf dem Zenith äußern und innern Glückes und bürgerlicher Größe, und wie mit Flammenzügen prägte sich der Alles beobachtenden Seele Alfred’s, der nun längst wieder genesen war, der grelle Contrast zwischen dem zwecklos und eintönig dahinschleichenden Leben der Seinen und der Hochfluth in dem thätigen weitverzweigten Dasein dieser stolzen Bürgerfamilie ein.
„Herr Candidat,“ sagte er einmal zu Feldheim, während sie mit einander am Fenster standen und dem Bau zusahen, „wenn ich je in meinem Leben gesund und gescheidt genug dazu würde, ich würde auch einen Beruf erwählen, ich würde ein Kaufmann oder ein Gelehrter. Nicht wahr?“
„Wenn Du Johanniter werden willst, mein Kind, kannst Du keinen Handel treiben, das verstößt gegen die Satzungen des Ordens!“ erwiderte lächelnd der Candidat.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 115. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_115.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)