Verschiedene: Die Gartenlaube (1870) | |
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Anblick im Spiegel vermied sie, wie wir das Antlitz eines Menschen vermeiden, vor dem wir uns schämen, und sie schämte sich vor sich selbst, sie mochte sich jetzt nicht in die Augen sehen.
Noch eine Secunde und sie war in ein schlichtes Morgenkleid gehüllt und eilte die Treppe hinunter in Alfred’s Zimmer. Da lag der Knabe im heftigsten Fieber mit verschleierten entzündeten Augen und brennenden Wangen, und der immer geduldige Wächter, der Candidat, stand an seinem Bette. „Mein Kind, mein Kind,“ schrie Adelheid, „was ist Dir?“
„Er hat die ganze Nacht schon Hals- und Kopfschmerzen gehabt und mich leider nicht geweckt,“ sagte der Candidat. „Als ich vorhin aufstand, fand ich ihn im Bette sitzend und kaum im Stande, mich um einen Tropfen Wasser zu bitten, so ausgetrocknet und verschwollen war ihm der Gaumen. Ich schaffte sogleich warmes Zuckerwasser herbei und seitdem kann er doch wieder sprechen. Dann schickte ich zum Doctor und zu Ihnen, gnädige Frau.“
„Mütterchen!“ stammelte Alfred aus seinem Fieber heraus und griff nach ihrer Hand.
„Kind, Herzenskind!“ rief Adelheid und drückte den Knaben an sich. „Warum hast Du denn so lange gezögert, Herrn Feldheim zu wecken, wenn Du doch schon die ganze Nacht Schmerzen hattest?“
„Weil ich wußte, daß er dann Dich wecken würde, wie Du es immer befohlen, und das wollte ich nicht,“ sprach Alfred mit schwerer Zunge. „Du bist gestern spät zu Bette gekommen; ich hörte Dich bis nach Mitternacht über meinem Zimmer auf und nieder gehen, und da wollte ich Dich ruhig ausschlafen lassen.“
Adelheid stand da wie vernichtet. Eine ganze endlose Nacht hatte das Kind seine Schmerzen überwunden, um den vermeintlichen Schlaf der Mutter nicht zu stören, und während ihr Kind in Fiebergluth Stunde um Stunde vergebens nach einem Tropfen Wasser lechzte, hatte sie an ihren Geliebten geschrieben, und als die Noth des armen Kindes auf’s Höchste stieg, sich Diamanten in das Haar gewunden, und während er den kindlichen Angstschrei nach der Mutter mit männlicher Willenskraft aus Schonung für sie unterdrückte, hatte sie den Entschluß gefaßt, ihn für Wochen oder Monde zu verlassen! Vielleicht hing des Knaben Leben von dieser stundenlangen Versäumniß ab, vielleicht kam die Hülfe schon zu spät – dann starb das Kind aus liebevoller Rücksicht für die Ruhe der Mutter, für die Ruhe, die sie Träumen der Sünde geopfert! Stumm, keines Wortes mächtig, sank sie vor dem Bette nieder und barg das Gesicht in Alfred’s Kissen, während es nur in ihrer Seele rang und flehte: „Nicht diese Strafe, Gott, nicht diese Strafe!“ Und sie war nicht mehr die schönste Frau und die Geliebte des glänzendsten Cavaliers; sie war nichts mehr als eine Mutter, eine geängstigte, zerknirschte Mutter, die in diesem Augenblicke mit dem Opfer all ihrer heißen Liebes- und Glückwünsche das Leben ihres Kindes von Gott erkaufen will.
Der Candidat stand schweigend wie immer dabei und rührte sich nicht, um sie nicht zu stören, denn er fühlte, daß etwas Großes in ihr vorging. Er sah, wie sie kämpfte und litt; er lauschte ihren tiefen Athemzügen; er sah, wie das rasch aufgewundene Haar sich löste und unter der leichten Hülle hervorquoll, und er kehrte den Blick ab und heftete ihn auf das Kind.
Endlich hob Adelheid, immer noch knieend, den Kopf und wandte sich gegen den Candidaten, daß es aussah, als kniete sie vor ihm.
„Herr Feldheim,“ sagte sie leise, „haben Sie mir verziehen, was ich gestern gesprochen?“
„Ich that es gestern schon!“ war die ruhige, fast kalte Antwort.
„Um des Kindes willen – aber nicht um meiner selbst willen. O Herr Feldheim, ich habe schwer gegen Sie gefehlt! In der Angst dieser Stunde fühle ich erst wie schwer, und um der Angst dieser Stunde willen bitte ich Sie, vergeben Sie mir ganz und voll und großmüthig, wie Sie sind!“
Sie nahm seine harte Hand in ihre weichen sammtenen Hände und Thränen glänzten in ihren Augen.
„Gnädige Frau, ich bitte Sie!“ – wehrte der starre Mann ab; es war, als ängstige ihn die Reue der leidenschaftlichen Frau. „Wie mögen Sie um dieser Geringfügigkeit willen ein solches Aufheben machen!“
Adelheid sah ihn erstaunt an; welch ein Ton war das? Ein heimlicher Schmerz durchzuckte sie, eitle Schamröthe überflog ihr Gesicht. Sie wandte sich wieder Alfred zu. „Mein Kind, mein Kind,“ sprach es in ihr, „was brauch’ ich mehr als Dich?“
Da berührte Jemand leise ihre Schulter. Erschrocken sah sie auf; es war ihr Gatte. Kalt erhob sie sich und machte ihm Platz, daß er sich zu Alfred setzen konnte.
„Was ist Dir, mein Sohn, ich höre, Du bist krank?“ fragte der alte Mann und legte seine schwere zitternde Hand auf des Knaben Stirn.
Alfred versuchte zu lächeln.
„O, es ist nichts Besonderes, mein lieber Vater, nicht der Rede werth. Aengstige Dich nicht, mein Herzensväterchen; ich würde es ja sagen, wenn es was Besonderes wäre, ganz gewiß.“
„Gott gebe es!“ sagte der Freiherr beruhigter. „Ich bin so erschrocken, als ich hörte, daß Deine Mutter schon auf ist! Ich finde aber doch, Du bist sehr heiß! Du glühst ja förmlich.“
„Der Herr Candidat hat mich so warm zugedeckt,“ beruhigte ihn Alfred. „Es wird wohl ein Schnupfenfieber werden, das ist Alles – gewiß! Geh’ nur wieder zu Bette, mein Väterchen, thu’s mir zu Liebe, sonst ängstigst Du mich, es ist ja erst fünf Uhr. Ich werde wohl ein paar Tage liegen bleiben müssen; Du weißt ja, ich liege gern im Bette. Da leistest Du mir wieder Gesellschaft und spielst Schach mit mir und erzählst mir aus Deinem Leben, nicht wahr? Besonders aus Deiner Kindheit, das höre ich am allerliebsten. Aber nun geh, lieber Vater; bitte, bitte, geh wieder zur Ruhe!“
„Ich will Dir’s zu Liebe thun, mein Junge,“ sagte der Freiherr, „ich thue Dir ja Alles zu Liebe! Aber nicht wahr, wenn es schlimmer würde, läßt Du mich rufen, liebe Adelheid?“ wandte er sich an seine Frau, die gesenkten Blickes neben ihm stand.
„Gewiß!“ sagte sie, und der Freiherr erhob sich von seinem Stuhle.
„Vater, einen Kuß!“ bat Alfred, und als der alte Herr sich zu ihm niederbeugte, fühlte das Kind, wie rasch und ängstlich sein Athem ging – und wieder lächelte es und nickte und winkte mit der Hand, bis der Vater das Zimmer verlassen, dann fiel es in die Kissen zurück, und es war als ergössen sich die Wogen des Fiebers, die der Knabe durch Willenskraft zurückgehalten, auf’s Neue über ihn. Er schloß die Augen, aber eine Thräne rann langsam unter den gesenkten Wimpern hervor.
„Alfred, Du weinst?“ fragte der Candidat.
„Es würde mir so leid für den Vater thun, wenn ich sterben müßte!“ stammelte er wie im Traume.
„Alfred,“ rief Adelheid, „was sind das für Gedanken!“
„Armer Vater!“ lallte er, als habe er nichts gehört.
„Kind, nur um den Vater klagst Du?“ sprach Adelheid mit sanftem Vorwurf, „und an die Mutter denkst Du nicht?“
„Mutter – Mutter!“ wiederholte Alfred mechanisch, aber er konnte keinen Gedanken mehr fortspinnen, er verfiel in eine Betäubung, die dem Schlummer glich.
Adelheid und der Candidat setzten sich leise nieder. Adelheid schaute starr vor sich hin. „Wohl dir, wohl dir,“ dachte sie, „daß du an deines Kindes Bette sitzest! Wie wäre es, wenn du in der Fremde, von einem rauschenden Feste kommend, die Nachricht von seiner plötzlichen Erkrankung erhieltest und müßtest noch Tag und Nacht in der Todesangst reisen, um zu ihm zu gelangen – und fändest es dann vielleicht – – o wohl dir, daß du an seinem Bette sitzest!“ wiederholte sie mit einem Blicke gen Himmel, den nur Gott sehen sollte. Aber auch der Candidat hatte ihn gesehen. Er war so schön, dieser Blick, so schön wie der einer Madonna, da sie über dem Leichnam des gekreuzigten Sohnes betet! Er sah, daß sie betete, und sein Herz that sich ihr auf im Namen der ewigen Barmherzigkeit!
Da sank ihr Auge wieder nieder und unwillkürlich streifte es das ihr zugewandte Gesicht des Candidaten und wieder verbreitete sich tiefe Röthe über ihre durchsichtige Stirn.
Keines sprach ein Wort, Alfred schien ja zu schlafen. Sie vermieden es einander anzusehen, und in diesem Vermeiden lag ein banges Etwas, das schwül und schwer auf ihnen lastete wie die Fieberhitze, die von dem Lager des Kranken ausströmte.
Da ward der Arzt hereingeführt und bei seinem lauten „Guten Morgen“ fuhr Alfred in die Höhe: „St, der Vater, leise
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 111. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_111.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)