Verschiedene: Die Gartenlaube (1870) | |
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„Das ist die echte Natur des Edelmanns, die sich des scheinbar oder wirklich Unterdrückten annimmt! Ich kann jetzt noch kein Verständniß von Dir fordern für die ewige unerbittliche Nothwendigkeit der Standesunterschiede, mein Sohn. Aber Du bist edel, auch wo Du unverständig bist, das ist mir die Hauptsache.“ Er trocknete Alfred die Augen und die schweißbedeckte Stirn und dieser küßte seinem Vater leidenschaftlich die Hand. Man ging in unbehaglicher Stimmung zu Tische.
Tante Wika ließ ihren Zorn während des Essens an dem Candidaten aus. Da sie aber merkte, daß ihre kleinen Pfeile an seiner ehernen Brust abprallten, machte sie sich über ihren weniger gerüsteten Bruder her. Der alte Herr konnte ihr nicht entschlüpfen, denn er war der zwingenden Gewohnheit unterworfen, nach dem Essen eine Partie Piquet zu spielen. So alt er war, hatte er doch bis jetzt männlich der Schwäche widerstanden, nach Tische zu schlafen. Seit dem Tode seiner ersten Frau, also seit ungefähr zwanzig Jahren, spielte er mit Tante Wika jeden Nachmittag Piquet. Sie war die einzige von ihren Schwestern, die sich um diese Stunde aus Angst vor einem „Schlagfluß“ wach erhielt, während Lilly schnarchte und Bella, das Strickzeug in der Hand kerzengerade auf einem steifen Sessel sitzend, nickte und außer sich gerieth, wenn man ihr nachsagte, sie habe geschlafen.
Diese stille Stunde, die Adelheid meist mit dem Lehrer und Alfred im Garten verträumte, benützte Wika, um ihren Bruder zu tyrannisiren. Sie wußte wohl, welch unzerreißbares Band solch ein gewohntes gemeinsames Spielchen ist, und sie profitirte davon. Beim Piquet wurde der Bruder gezaust, beim Piquet wurde auf seine Umgebung geschimpft, gegen die er stets zu nachsichtig war, beim Piquet mußte er alle kleinen Schulden der Schwestern bezahlen. Dieser regelmäßige allnachmittägliche Aerger war dem alten Herrn so zur andern Natur geworden, daß er ihn vermißt hätte, wäre er ihm einmal ausgeblieben.
Adelheid kleidete sich und Alfred zu dem Nachbarsbesuche an. Wika rüstete den Spieltisch und ein eigenthümliches Wackeln ihres zweiten Unterkinns d. h. ihres Kröpfchens zeigte schon an, daß sie, wie sie zu sagen pflegte, „geladen“ sei.
„Du verdirbst den Jungen in Grund und Boden, liebster Kunibert,“ fing sie an und gab Karten aus, wobei sie ihm wohlbedacht die besten in die Hand spielte, sie wickelte ihre bitteren Pillen in gute Karten ein und er bekam der letzteren heute ungewöhnlich viele, denn sie hatte ihm auch ungewöhnlich viele von den ersteren zugedacht. „Du kannst es glauben, das führt zu nichts. Der Bursche meint jetzt schon, es müsse alles nach seinem Kopfe gehen. Er weiß, daß eine Thräne von ihm das ganze Haus unter Wasser setzt; kein Wunder, daß er sich zuletzt einfach auf’s Heulen legt, wenn er was will.“
„Es ist das erstemal seit langer Zeit, daß ich Alfred weinen sah,“ erwiderte Salten „Alfred ist eine zu noble Natur, um die Schonung, die uns sein körperliches Leiden abzwingt, irgend wie zu seinem Vortheil auszubeuten. Eines so gemeinen Raffinements weiß ich Gottlob mein Blut unfähig.“
„Dein Blut, ja“ – brummte Wika und klappte die abgehobenen Karten zusammen – „aber auch das Deiner Frau Gemahlin? Ist Alfred nicht eben so gut der Sohn seiner Mutter, wie der Deine?“
Der alte Herr spielte ein Blatt aus, so heftig, daß er die Knöchel seiner Hand dabei auf den Tisch schlug: „Laß meine Frau aus dem Spiel!“
„Ja, so sagst Du immer, wenn Du was nicht gerne hörst,“ beharrte Wika. „Und doch kann es nicht so fortgehen. Kannst, darfst Du Deinen Sohn, den Letzten unseres Hauses, bis in sein vierzehntes Jahr hinein so ohne alle Kenntniß unserer Rechte und Pflichten aufwachsen lassen?“
„Mein Gott,“ rief der Freiherr ungeduldig, „dazu ist es ja immer noch Zeit, wenn Alfred größer und kräftiger ist. Soll ich jetzt, wo wir noch alle Hände über das zarte Kind halten müssen, Auftritte herbeiführen, die möglicherweise Krankheit und Tod unseres Einzigen zur Folge haben könnten?“
„Schlimm genug, daß es jetzt schon der Auftritte bedarf, um den Jungen zu unserer Meinung zu bekehren! Das eben ist es, wovon ich rede, da liegt der Hase! Wodurch kommt der dreizehnjährige Bursche zu so bestimmten Ansichten? Durch Niemand anderen als den sauberen Herrn Candidaten. Aber Du bist rein blind, – Du siehst und merkst es nicht, wie Dir diese schwarzäugige Schlange den Sohn verführt und abwendig macht.“
Der Greis lächelte: „Sieh, Wika, Du bist sehr gescheidt und kannst viel! Aber mich irre machen an meines Kindes Herzen, das ich täglich, stündlich mit all seiner Inbrunst an dem meinen schlagen fühle – das kannst Du noch nicht! Gott sei Dank, meines Kindes bin ich sicher, und solange ich das weiß und fühle, solange mögt Ihr mir gegen seinen Erzieher sagen, was Ihr wollt, es wird Euch nichts nützen. Er ist ein wenig überspannt, aber er lehrt Alfred vor allem seine Eltern ehren und lieben, und das ist doch die Hauptsache.“
„Ei,“ höhnte Wika, „es ist wirklich anerkennungswerth, daß er den Jungen nicht gleich anhält, seine Eltern von Haus und Hof zu jagen, wie Schiller’s Lear.“
„Liebe Schwester, Lear ist von Shakespeare, – Du entschuldigst –“
„Schiller oder Shakespeare, diese Demokraten sind mir alle gleich!“ sagte Wika, gereizt über die Blöße, die sie sich gegeben.
„Aber, Wika – weder Schiller noch Shakespeare waren Demokraten, der letztere war ja von der Königin Elisabeth begünstigt und Schiller wurde sogar geadelt, sein Sarg steht mit dem Goethe’s in der großherzoglichen Gruft in Weimar!“
„Was kümmert mich das! er war doch ein Demokrat und es war eine erbärmliche Schwäche von Karl August, einen Menschen, der die Räuber geschrieben hat, in den Adelstand zu erheben. Diese Herren erliegen doch alle der Eitelkeit, sich populär zu machen. Mit hergelaufenen Poeten Verse machen, mit windigen Musikanten musiciren und den lieben Plebs dazu Beifall klatschen lassen, das sind so die neumodischen Beschäftigungen unserer Landesväter! Wer soll noch den Unterschied der Geburt aufrecht erhalten? Wir! wir allein haben es in der Hand, dem Chaos zu wehren, wir müßten eine undurchdringliche Phalanx bilden. Wir müßten uns der Hofämter und besonders des persönlichen Dienstes bei den höchsten Herrschaften bemächtigen, damit solche Kerle, solche Künstler und Freigeister gar nicht mehr herankommen könnten.“
„Das könnten wir, meine liebe Wika, wenn es uns gelänge, alle Gebiete des Wissens und Denkens allein zu beherrschen; doch dies kann nie geschehen, denn diese Gebiete sind vogelfrei. Die Zeiten, wo der Adel das Monopol der Bildung hatte, sind um; Schulen und Universitäten machen dieselbe zum Gemeingut. Es ist hart, auf altgeheiligte Vorrechte verzichten zu müssen; aber wir müssen nun einmal, so thun wir es wenigstens mit Würde und ohne Neid. Was wir haben, können wir verlieren, aber doch niemals, was wir sind!“
„Nein,“ schrie Wika, „wir müssen nicht; wer sagt denn, daß wir müssen? Ein solches Treiben heißt ja der Revolution Thür und Thor öffnen, die Anarchie bei sich zu Tische bitten,“ fuhr sie immer hitziger und kurzathmiger fort. „Jetzt ist der Augenblick da, wo der Adel den bergabrollenden Wagen aufhalten oder sich von ihm trennen muß. Wachsam und eifersüchtig haben wir unsere Stellung zu hüten und unsere Aufgabe zu wahren. Dem vergossenen Heldenblut unserer Ahnen sind wir es schuldig, daß wir nicht kampflos und flau eine Stellung hingeben, die sie uns mit den schwersten Opfern erkauft. Und wenn Du nicht ein alter stumpfer Mann wärst, so müßte Deinem Sohne das Alles schon längst in Fleisch und Blut gedrungen sein, er müßte toben wie ein junger Löwe gegen das Gezücht, das sich zu uns empordrängt, statt zu heulen, daß wir es nicht mit offenen Armen aufnehmen!“
„Der Knabe ist krank, Wika; seine vielen Leiden haben in ihm den männlichen Trotz gebrochen und sein Herz weich gemacht. Da ist nichts zu erzwingen.“
„Ja wohl, und wenn Du diese Herzerweichung so fortmachen lässest, so trinkt er Dir in zehn Jahren Bruderschaft mit Deinen Stallknechten und heirathet aus lauter Humanität ein Fabrikmädchen.“
„Mein Gott, was soll ich denn thun?“ rief der Freiherr, dem bei dieser Rede Wika’s der Angstschweiß ausbrach.
„Den Candidaten sollst Du fortjagen – was hilft alles Curiren, wenn Du die Ursache der Krankheit nicht entfernst!“
„Ich sage Dir aber, ich werde nicht auf ein bloßes Vorurtheil hin meinem Kinde das Herz brechen. Und das würde ich thun, wenn ich ihm den Lehrer nähme, der ihn seit fünf Jahren mit einer Liebe und Aufopferung pflegt, die einzig in ihrer Art ist und die ich dem Manne mit nichts genügend lohnen kann! Sieh, Schwester, ich habe Euch lieb und ich ertrage Eure Sonderbarkeiten und Launen, weil ich eben Euer Bruder bin. Einen Erzieher aber, dem es gelänge, Euch zu gefallen, würde ich sofort zum
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 52. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_052.jpg&oldid=- (Version vom 17.12.2018)