Verschiedene: Die Gartenlaube (1870) | |
|
schwergepanzerten Fuß herab. Ach, er wollte ja nicht einmal fliegen, wenn er nur laufen konnte, laufen wie die Nachbarskinder, da wäre er schon ganz zufrieden gewesen, oder nur wenigstens sehen ohne Augenschmerzen, ja, nur sehen hätte er mögen wie die Anderen! Es wäre ihm beinahe eingefallen, daß er doch ein recht armer Knabe sei; aber da trug der frische Seewind von Zürich das Läuten der Dampfschiffglocke herüber, nun mußte das Schiff bald kommen und darüber vergaß er’s wieder.
Er setzte sich auf eine der eisernen Gartenbänke, die zum behaglichen Anschauen des reizenden Amphitheaters errichtet waren, denn das Stehen that ihm weh. – Und während er so auf den Dampfer wartete, ergoß sich ein anderes feierlicheres Geläute in sanften Schallwellen über den See. Es waren die Kirchenglocken von Zürich, von Rapperschwyl und allen den blühenden Ortschaften der Ufer. Rein und keusch wie die Zwinglianische Lehre selbst tönte der melodische Ruf zur Kirche durch die Sonntagsstille, und es war, als glätte sich der Wasserspiegel unter dem hohen Lied und der Morgenwind legte sich, die Vögel schwiegen. Wie ein Canon, von metallenen Kehlen gesungen, flossen die verschiedenen Glockenstimmen allmählich ineinander, erst eine, dann zwei, dann drei und so fort in mächtiger Steigerung anschwellend über die ganzen unabsehbaren Gestade hin. Wie das Tönen und Klingen von allen Thürmen nah und fern jetzt ineinander schmolz, so strömten nun aller Orten die Seelen der Andächtigen zusammen in einem Gefühl, ein Gedanke war’s, in dem sie sich Alle vereinten, ein Gedanke, der sich aussprach in der morgendlich lachenden Schöpfung ringsum, und den selbst das Kind in seiner ganzen Schöne empfand, das entsagungsreiche, von Krankheit gepeinigte Kind: der Gedanke Gottes.
Nach und nach ward das Geläute schwächer, eine Glocke nach der andern verstummte, traumhaft verhallend zog es sich mehr und mehr in die Ferne, bis endlich nur ein letztes Glöckchen in einzelnen Schlägen träumerisch nachklang, wie noch vom versiegenden Brunnen dann und wann ein Tropfen fällt.
Jetzt durchschnitt das Abfahrtszeichen von Zürich die melodieengeschwängerte Stille. Die Wellen wurden bewegter und schlugen schäumend und spritzend an das Gemäuer der Terrasse an. Das seltsame Stampfen und Rauschen der Maschine im Wasser erscholl, erst fern, dann näher und näher, bis das stolze Schiff maiestätisch durch die blaue Fluth dahergebraust kam, seinen schwarzen Dampf weit hinaus puffend, auf dem Verdeck lachende, geputzte, entzückte Menschen mit bunten Sonnenschirmen und hellen Hüten, die es hineintrug in den wonnigen sonnigen Tag, in die Wunder der Schweiz.
Dem Knaben schlug das Herz im Tacte mit der Maschine, er breitete sehnsüchtig die Arme aus: er wäre so gerne mitgezogen mit dem leicht vorbeijagenden Fahrzeug, wohin? das wußte er selbst nicht, nur in die duftige Ferne, wo er die letzten Glockentöne ersterben gehört, – dort, meinte er, müsse es am schönsten sein! Er eilte, so schnell er konnte, an das Geländer und bog sich hinaus, er horchte, wie die schäumenden Wellen hinter dem Schiff wild murmelnd zusammenschlugen, ähnlich wie die Menschen, wenn ein großes Ereigniß durch sie hingezogen, in ihrer Aufregung zusammenlaufen und sich darüber besprechen.
„Hurrah Fredy, paß auf, jetzt komm’ ich zu Dir!“ rief vom Nachbarsgarten eine laute Mädchenstimme herüber, und als der Kleine den Kopf wendete, sah er die Sprecherin zu seinem unbeschreiblichen Entsetzen auf der steinernen Einfassung stehen, welche die Terrassen der beiden Güter gemeinsam vom See trennte. Der Weg, den das tollkühne Mädchen einschlagen wollte, war höchstens zwei Hand breit, wie solche steinerne Brüstungen eben sind. Da stand es hoch aufgerichtet, ein schönes Kind von etwa acht Jahren, die Arme zum Balanciren ausgebreitet, und schickte sich an, seinen halsbrechenden Lauf zu beginnen. Der Wind riß an seinem flatternden Röckchen und wehte ihm die krausen dunkeln Haare von der Stirn. Die kräftige Gestalt hob sich prächtig ab von dem leuchtenden See, in den sie der leiseste Fehltritt hinausschleudern konnte.
Dem Knaben wurde übel und schwindelig, als er seine kleine Freundin so frei auf der schmalen Kante über dem Wasser stehen sah. „Aennchen, um Gotteswillen, thu’ das nicht!“ schrie er zitternd und rang in bitterer Angst die mageren Händchen.
„O Du Hasenfuß,“ lachte sie, „wenn ich in den See falle, schwimme ich wieder heim.“ Und leicht wie eine Libelle schwebte sie daher, setzte sicher einen Fuß vor den andern, streckte die Arme aus wie Flügel, bald rechts, bald links schwankend, aber doch immer das Gleichgewicht haltend. Der Knabe sah ihr athemlos zu, seine Stirn und Hände wurden ganz feucht, nun mußte sie noch um das Aprikosenspalier herum, welches bis zur Brüstung die beiden Gärten trennte. Die zwei Minuten, wenn sie so lange brauchte, dünkten ihn ewig, bis sie endlich bei ihm anlangte. Rasch griff er mit seinen schwachen Armen nach ihr, um sie zu halten, aber sie sprang mit einem Satz von der Brüstung herunter. „Etsch, da bin ich schon!“ jubelte sie in die Hände klatschend, „wie die sich da drüben den Kopf zerbrechen werden, auf welche Art ich aus dem Garten kam, denn zur Thür ging ich nicht hinaus und über das abscheuliche hohe Spalier kann ich ja nicht mehr herüber.“ Sie hielt inne und sah den Knaben an. „Aber, Fredy, ich glaube gar, Du weinst?“
„Ach Aennchen, ich habe mich so geängstigt.“
Aennchen war ein wenig betroffen. „Geh’, schäme Dich doch, so ’n großer Bub’ und weinen, wegen so ’was!“ Sie schüttelte ihn liebreich bei den Achseln. „Hör’ doch auf, Du kriegst wieder böse Augen, – Du siehst ja, ich bin nicht in’s Wasser gefallen, ich und in’s Wasser fallen, das wäre noch schöner!“
„Ach Aennchen, Du hast eine solche furchtbare Courage,“ klagte Fredy. „Dir geschieht gewiß noch einmal ein Unglück.“
Aennchen lachte, daß es kräftig vom See wiederhallte. „Du feiger Bub’, Du! Das kommt Dir nur so vor, weil Du weder turnen noch laufen kannst und immer im Zimmer sitzen mußt. Die Mutter sagt’s alle Tage, Du würdest einmal ein schöner Mann werden, wenn Du so fortmachtest.“
Der Knabe sah die unvorsichtige Spötterin unter seinem grünen Schirm mit einem seltsamen Blick an, eine tiefe stille Trauer lag darin, aber er sagte nichts.
Aennchen mochte fühlen, daß sie ihm weh gethan, denn sie nahm ihn gutmüthig bei der Hand. „Na komm, Fredeli, wir wollen spielen.“
„Was denn?“ fragte der Knabe, eine letzte Thräne aus den Augen wischend, die ihn wie Feuer brannte.
„Mutter und Kind. Ich bin die Mutter und Du bist das Kind.“
„Ach Aennchen, laß mich doch nur ein einziges Mal den Vater sein und sei Du die Tochter,“ bat Fredy, „ich bin doch fast fünf Jahre älter als Du!“
„Ja, aber ich bin um so viel größer und stärker als Du,“ erwiderte das Mädchen mit Ueberlegenheit, nahm den unbeholfenen Knaben in die Arme, drehte ihn um und um und drückte ihn behend auf die Bank nieder. „Siehst Du, ich zwinge Dich. Ich bin Deine Mutter, und Du mußt thun, wie ich will.“
„Nun so mach’, was Du Lust hast,“ sagte er sanft, „ich folge Dir ja doch immer. Wenn ich einmal groß bin und gesund, dann mußt Du mir folgen, denn dann werd’ ich Dir’s in Allem zuvorthun, Du wirst schon sehen.“
„Ja, das möchte ich einmal sehen!“ spottete Aennchen und drehte sich auf dem Absatz herum. Dann band sie einen Strick los, den sie wie einen Büßerstrang um den Leib geschlungen trug, und sprang in gewaltigen Sätzen darüber, immer schneller, daß sich das Seil zuletzt wie ein beweglicher Ring um sie herumschwang, durch den sie mit gleichen Füßen hindurchhüpfte. Kein Kind in ganz Zürich konnte so schön Seil springen, wie sie, das wußte sie recht gut, ja selbst ihre vier großen Brüder machten es ihr nicht nach.
Fredy schaute ihr stumm vor Verwunderung zu, wie sie so elastisch, einem Gummiball gleich, auf- und niederschnellte, so rasch, daß man glaubte, ihre Füße berührten den Boden nicht mehr, und daß ihre breite Brust kaum Athem fand, nur schnell genug nachzuzählen, wie oft sie ohne zu fehlen sprang. „einundfünfzig, zweiundfünfzig,“ zählte sie, Fredy’s Staunen auf die äußerste Höhe treibend. Da fing sich das Seil in ihren langen wallenden Haaren und setzte ihrem Uebermuth ein Ziel. „Nun, Fredy,“ sagte sie verschnaufend und ihre großen Augen blitzten ihn lustig an, „wirst Du mir das nachmachen, wenn Du groß bist?“
„Nein, das nicht, aber man braucht nicht Seil zu springen, um ein rechter Mann zu sein,“ sagte Fredy ernst.
„Ei was, wenn Du nicht kannst, was ich kann, dann hab’ ich auch keinen Respect vor Dir, verstehst Du? Ein rechter Junge muß Courage haben und Du hast keine, zu nichts, zu gar nichts!
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 34. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_034.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)