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Seite:Die Gartenlaube (1866) 651.jpg

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

Er begab sich wieder an seinen Tisch und fuhr fort mit dem Ordnen und Vernichten seiner Briefschaften, vollkommen so ruhig und bedächtig, wie vorhin. Ein großes, versiegeltes Schreiben legte er allein. Agathe hatte sich nicht auf das Sopha gesetzt, sie trat in ein Fenster, drückte das blasse Gesicht an die Scheiben und blickte mit den verweinten Augen in die Nacht hinaus. Das Fenster ging nach dem Walde hin, nach der Gruft, in der ihre Mutter ruhte, auch nach einer andern Stelle. Sie sah still hin; Thränen glitten über ihre Wangen. Der Präsident war fertig und trat zu ihr.

„Du schaust nach Deiner armen Mutter aus?“ sagte er.

„Sie ist da so allein, Großvater.“

„Sie ist bei ihren Ahnen, Agathe.“

„Die Todte bei den Todten!“

„Der Tod versammelt uns Alle wieder. Er trennt, um wieder zu vereinigen.“

Agathe antwortete nicht. Ihr Blick war nach einer andern Seite des Waldes gerichtet. Heiße Thränen stürzten plötzlich aus ihren Augen; sie mußte laut aufschluchzen.

„Komm, mein Kind,“ sagte der Präsident.

Er wußte wohl nicht ganz, was diese neuen Thränen bedeuteten. Er nahm ihre Hand und zog sie mit sich aus dem Zimmer.

„Deine Reisekleidung, Großvater?“ frug sie dann, in all’ ihrem Weh und Schmerz fähig, auf den Greis zu achten.

„Konrad wird sie in den Wagen gelegt haben.“

Er sprach es freilich in so sonderbarem Tone, und darauf achtete sie nicht. Er führte sie zu dem Reisewagen, der draußen an dem Portale hielt. An dem Schlage des Wagens stand der Diener Konrad, der Kutscher saß auf dem Bocke. Weiter war Niemand da. Der Präsident hatte es so befohlen. Er hob das Kind in den Wagen.

„Fahre langsam voran,“ sagte er zu dem Kutscher, „bis an das Hofthor.“

„Wo bleibst Du, Großvater?“ fragte Agathe.

„Ich hatte etwas vergessen. Ich muß mit Konrad auf einen Augenblick in das Haus zurück. An dem Thore werden wir wieder bei Dir sein.“

Das Mädchen beruhigte sich. Der Wagen fuhr langsam voran. Herr und Diener waren stehen geblieben.

„Konrad, Du fährst mit dem Kinde allein. Du weißt Alles.“

„Und Sie, Herr?“

„Ich bleibe hier.“

„Was haben Sie vor?“

„Frage nicht.“

„Herr, ich beschwöre Sie.“

„Geh!“

„Herr, Herr, ich verlasse Sie nicht. Ich kann es nicht.“

„Willst Du das Kind allein lassen?“

„Ich hole sie zurück.“

„Um sie zu tödten?“

„Großer Gott, was soll ich?“ rief der alte, treue Diener in seiner Verzweiflung.

„Deinem Herrn gehorchen,“ sagte ruhig der Präsident.

Der Diener hatte keine Gegenworte mehr, aber ein inneres Entsetzen schüttelte seinen Körper.

„Was sage ich dem Kinde?“ fragte er nur noch.

„Was Du willst.“

Herr und Diener trennten sich. Konrad eilte dem Wagen nach. Der Präsident blieb an dem Portal stehen. Als er nach einigen Minuten den Wagen fortrollen hörte, immer weiter, bis er durch die stille Nacht nichts mehr vernahm, wollte er in das Haus zurückkehren. Da wurde auf einer andern Seite etwas laut. Von der Stadt her kam ein Wagen mit Reitern näher.

„Ah,“ sagte der Präsident und er blieb stehen, wo er stand.

Der Wagen fuhr, die Reiter sprengten in den Hof. An dem Portal schwangen sich einige aus den Sätteln. Unter ihnen war mit seiner verbundenen Hand der Polizeirath Schwarz. Er wollte seinen Begleitern Befehle ertheilen. Der Präsident trat aus dem Dunkel des Thores auf ihn zu.

„Sie suchen mich, Herr Polizeirath?“

„Ah, mein Herr Präsident –!“

„Ich bin Ihr Gefangener.“

Der Polizeirath hatte sich von seiner Ueberraschung erholt.

„Herr Präsident, ich werde Sie bitten müssen, diesen Wagen zu besteigen.“

„Hm, Herr Polizeirath, dürfte ich Sie vorher bitten, mich auf einen Augenblick in meine Wohnung zu begleiten? Nur um mich umzukleiden. Ihre Gensd’armen nehmen Sie mit.“

„Wie Sie befehlen, Herr Präsident.“

Der Präsident und der Polizeirath, gefolgt von zwei Gensd’armen, gingen in das Haus.


6. Das Kind.

Am dritten Abende nach den bisher erzählten Begebenheiten bewegte sich wieder ein Leichenzug aus der Propstei nach dem Walde hin und nach dem Grabgewölbe, das der Landesherr der Familie der Freiherren von Ballard als Erbbegräbniß überlassen hatte. Diesmal war es ein glänzender Leichenzug; sechs schwarz gekleidete Männer trugen den Sarg und hinter diesem ging ein Herr, der auf sammetnem Kissen eine Menge Orden trug, die in seinem Leben den Verstorbenen geschmückt hatten.

Dann kam das große Leichengefolge; zuerst der Wagen des Fürsten, des Herrn des Landes; zu Fuße folgte eine unabsehbare Reihe von Herren, wieder zuerst ein Adjutant des Fürsten, als dessen Stellvertreter. Neben ihm ging der zweite Präsident der Regierung, deren erster Präsident der Verstorbene gewesen war; auch das ganze Collegium und sämmtliche Beamte der Regierung waren da und sämmtliche andere Behörden der großen Provinzstadt waren vertreten und die Bürgerschaft in allen ihren Schichten. Waren doch der Wagen und der Adjutant des Fürsten an der Spitze des Zuges! Da drängte sich Alles zu der Theilnahme.

Aber Eines fehlte dem ernsten Trauerzuge, jene stille, ernste Trauer, mit welcher vor drei Tagen die arme Frau auf demselben Wege zu der Gruft ihrer Ahnen geleitet worden war.

Und Agathe fehlte. Damen waren ja gar nicht in dem Zuge.

Der Adjutant und der Vicepräsident und die Räthe der Regierung gingen in feierlicher Stille; ihre amtliche Stellung forderte das. Die Subalternbeamten durften dagegen leise miteinander sprechen; hinten im Zuge hielt man sich ungenirter.

„Ein eigenthümlicher Todesfall, dieser!“

„Ich denke, ein geheimnißvoller!“

„Und jeder geheimnißvolle Todesfall ist schon eben darum ein eigenthümlicher, und wenn Leute, die über diesen Auskunft geben können, reden wollten –“ Der Sprechende brach ab.

„Der Polizeirath Schwarz zum Beispiel,“ sagte der Andere.

„Auch der Landrentmeister Aders,“ warf der Erste geheimnißvoll hin.

„Sie meinen wirklich?“

„Daß in der Casse Geld gefehlt hat, ist nicht zu bestreiten.“

„Und der Präsident hätte es bekommen?“

„Daß die Welt es sagt, wissen Sie so gut, wie ich.“

„Die Welt sagt viel.“

„Gewiß. Aber warum dieser plötzliche Selbstmord?“

„Ist nicht auch er nur ein Gerede der Welt, oder vielmehr der Stadt? Die besser Unterrichteten sprechen von einem plötzlichen Schlaganfall.“

„So sprechen die besser Unterrichteten in jedem solchen Falle. Allein, um nur Eins anzuführen, warum hätten, noch bevor man von Tod oder Krankheit eine Ahnung hatte, Polizei und Gensd’armen die Propstei besetzt? Erst während sie da waren, starb der Präsident plötzlich; man sagt, nachdem er sich auf kurze Zeit von den Beamten entfernt hatte und in sein Arbeitszimmer gegangen war.“

„Es ist allerdings auffallend.“

„Sodann vernehmen Sie Folgendes: Unmittelbar darauf, an dem späten Abende, fuhr der Polizeipräsident mit dem Polizeirath und dem Landrentmeister nach dem fürstlichen Schlosse, dort hinten im Walde, eine Meile von hier, in dem sich der Fürst gerade zur Jagd aufhielt. Sie erhielten noch in der Nacht Audienz; der Fürst sprach lange mit ihnen. Dann mußte der Polizeirath noch in der nämlichen Nacht weiter. Die Enkelin des Präsidenten hatte gerade vor der Ankunft der Polizei und Gensd’armen, also auch kurz vor dem Tode ihres Großvaters, die Propstei verlassen; nur der alte Kammerdiener des Präsidenten hatte sie begleitet. Ihnen mußte der Polizeirath nachsetzen; er hatte den Weg erfahren, den sie genommen hatten. Er hatte sie freilich diesseits der Grenze

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 651. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_651.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)