verschiedene: Die Gartenlaube (1866) | |
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Es kam mir so vor, als habe er sich nur deshalb dem Trunke ergeben, um, wenn auch nur zeitweise, Vorwürfe zu betäuben, die er sich, oder auch, die er Anderen zu machen hatte. Für den Augenblick war mit ihm nicht zu verhandeln, ich mußte ihn einschließen und im Gefängnisse bis zur Ankunft des Untersuchungsrichters seinen Rausch ausschlafen lassen.
Fräulein von K. war nicht durch die Polizei, sondern durch einen Gerichtsbeamten verhaftet worden. Ich hatte ihrer Ankunft mit einer für mich ganz ungewöhnlichen Spannung entgegengesehen und mich auf Außerordentliches gefaßt gemacht. Meine Erwartungen blieben in diesem Falle nicht bei den täglichen Erfahrungen stehen, sie gingen über Wehklagen und Thränen hinaus und verirrten sich sogar bis zu Ohnmachten. Der Gefängnißbeamte darf sich von solchen Zufälligkeiten nicht überraschen lassen und nach den zur Beseitigung derselben nothwendigen Mitteln nicht lange zu suchen haben. Ich hatte mich indeß vollständig getäuscht. Fräulein v. K. hatte sich eines Wagens bedient, um den Weg von ihrer Wohnung bis nach dem Gefangenen-Hause zurückzulegen. Sie wollte vielleicht das Aufsehen des Fußtransports vermeiden, oder sie wollte die peinlichen Erwartungen bis zu ihrer Einschließung abkürzen. Bei ihrem Eintreten in mein Zimmer war sie vollständig ruhig. Aber das Gehen war langsam und schwer und das Aussehen verrieth eine große Ermattung, eine ungewöhnliche Schwäche. Das Aussteigen aus dem Wagen und das Gehen bis zu meinem Zimmer schien ihre Kräfte vollständig erschöpft zu haben; ich mußte sie sofort niedersetzen und ihr zur Erholung einige Zeit lassen. Der Gerichtsbeamte war bereits fortgegangen, ich befand mich mit der Gefangenen allein. Um diese nicht zu beunruhigen, nahm ich an meinem Arbeitstische Platz und wollte mich eben mit Schreiben beschäftigen, als ich meine Gefangene sagen hörte:
„Ach, Herr Inspector, haben Sie nur noch ein ganz klein Wenig Nachsicht. Ich bin schwer krank gewesen, ich war dem Tode nahe. Vor wenigen Tagen noch würde es mir nicht möglich geworden sein, meinen alten Körper hierher zu schleppen. Es geht aber jetzt besser, und ich hoffe, in Ihrem Hause bald vollständig gesund zu werden.“
„Soll ich den Arzt rufen lassen?“ fragte ich überrascht, aber theilnehmend.
„Nein, nein,“ fiel Fräulein v. K. mir rasch in’s Wort, „ich bedarf keines Arztes.“
„Aber Sie klagen über Unwohlsein.“
„Das hat jetzt nichts mehr zu bedeuten,“ versetzte die Gefangene lächelnd, „die Krankheit ist, Gott sei Dank, gehoben, ich habe an mir eine Parforce-Cur ausgeführt und jetzt nur noch ein wenig Schwäche zu überwinden. Von meinen Leiden während meiner Krankheit machen Sie sich keine Vorstellung, sie sind nicht zu beschreiben. Wissen Sie, Herr Inspector, was Todesangst ist?“
Diese Frage überraschte mich, ich konnte sie auch aus eigener Erfahrung nicht beantworten, denn ich war noch nie in eine Lage gekommen, in welcher mein Leben ernstlich gefährdet gewesen wäre. Dagegen hatte ich in meinem Amte schon mehrmals Verbrecher auf ihrem letzten Gange begleiten müssen. Ich hatte da gesehen, wie das trotzige Wesen schnell ein Ende nahm, wie die kälteste Härte weich und die freche Kraft gebrochen wurde, wie die Glieder zuckten und zitterten, der Körper den Halt verlor, daß er sich kaum noch aufrecht zu halten vermochte, und wie zuletzt auch die geistige Kraft erlahmte. Allein ich hatte das nicht für Todesangst, sondern nur für Furcht gehalten, und zwar nicht für Furcht vor dem Tode, sondern vor dem, was nach dem Tode erwartet wurde. Sollte ich mich hierin geirrt haben? Sollte das wirklich der Ausdruck solcher Angst gewesen sein, von der Fräulein v. K. gesprochen hatte? Ich dachte hierüber nach und vergaß, eine Antwort zu geben. Mein Schweigen brachte die Gefangene auch nicht in Verlegenheit. Sie schien dies sogar nicht ungern zu sehen, denn sie fuhr nach einer kleinen Pause eifriger fort:
„Danken Sie dem lieben Gott, daß Sie nichts davon wissen; es ist ein entsetzlicher, ein grauenhafter Zustand. Wenn Sie ein wenig Zeit haben und mir Gehör schenken wollen, so will ich versuchen, Ihnen ein ungefähres Bild zu entwerfen. Sie müssen mir aber gestatten, etwas weit auszuholen und Sie zuerst ein wenig mit mir bekannt zu machen. Lassen Sie sich sagen, Herr Inspector, daß ich mir die Aufgabe gestellt habe, mich an Entbehrungen zu gewöhnen und meine Bedürfnisse auf ein geringes Maß einzuschränken, und daß ich dies deshalb thue, um mit den so gemachten Ersparnissen die Sorgen Anderer zu mindern. Ich kann ja in anderer Weise meinen Nebenmenschen mich nicht nützlich machen. In diesem Streben bin ich alt geworden und lange Zeit glücklich gewesen, denn ich sagte mir an jedem Abend, daß ich den Tag nicht umsonst verlebt habe.“
Man kann sich kaum eine Vorstellung von der liebenswürdigen Einfachheit machen, mit welcher Fräulein v. K. dies sagte. Es war ein Bekenntniß frei von jeder Heuchelei, es war der Ausdruck überzeugender Wahrhaftigkeit.
„Nicht wahr, lieber Inspector,“ begann die Gefangene nach einer kleinen Pause vertraulich weiter plaudernd, „bei solchen Grundsätzen und bei einer solchen Lebensstellung konnte und durfte ich erwarten, daß alle Menschen mit mir wenigstens freundlich sein würden? Ich habe ja mein Lebtage nichts gethan, wodurch Neid und Bosheit geweckt und genährt zu werden pflegen; ich habe auch wissentlich keinem Menschen wehe gethan oder eine Kränkung zugefügt. Die Menschen sind aber wunderliche Geschöpfe. Es ist Thorheit, durch Wohlthaten sich Freunde erwerben zu wollen. Der Eine empfängt nicht zur rechten Zeit, der Andere nicht in dem gewünschten Umfange, es werden immer Wünsche unerfüllt bleiben, und dies soll stets derjenige vertreten, von dem die Erfüllung des Wunsches begehrt worden ist. So ist es mir ergangen, ich habe diese Erfahrung gemacht. Ich überschüttete ein Frauenzimmer mit Wohlthaten, ich gab derselben weit mehr, als ich in meinen Verhältnissen geben durfte. Das Alles war aber nicht genug. Das Weib begehrte immer mehr, und als ich dies nicht gewähren konnte, da nahm es widerrechtlich was ich verweigert hatte. Als ich die Frau auf böser That ertappte, als ich sie durch das Gericht in die Strafanstalt bringen, als ich sie durch die Strafe für alle Zeit ehrlos machen, sie vor der Welt brandmarken konnte: da ließ ich mich durch Bitten, durch Thränen und Wehklagen bewegen, ihr zu verzeihen; ich nahm sogar nichts zurück, ich ließ ihr Alles, was sie mir gestohlen hatte. Und wissen Sie, wie diese Frau mir dankte? Sie beschloß, mich zu ermorden.“
Ich schüttelte ungläubig den Kopf.
„Was?“ schrie Fräulein v. K. erregt, „Sie glauben mir nicht? Sie halten heut’ zu Tage eine solche Schändlichkeit nicht für möglich? Der liebe Gott möge es gnädig verhüten, daß Sie jemals den Glauben so in die Hände bekommen, wie dies bei mir der Fall gewesen ist. Ja, gewiß und wahrhaftig, die Frau hatte mir den Tod geschworen. Der Plan war teuflisch. Sie gebrauchte keine Gewalt, sie verwendete auch kein Gift; Gift und Gewalt hinterlassen Spuren, die zum Verräther werden. Das wußte die Frau. Darum griff sie auch zu einem andern Mittel, das eben so sicher, wenn auch langsam wirkt, dessen Gebrauch aber kein Mensch zu erweisen im Stande ist, dessen Vorhandensein vielleicht nur Wenige kennen. Sie gebrauchte – Sympathie!“
Ich lachte laut auf. Mord durch Sympathie! Das war für mich etwas Neues, zugleich aber auch etwas so unsinnig Komisches, daß ich nicht ernst bleiben konnte. War meine Gefangene schwachsinnig? Darüber sollte ich bald Gewißheit erhalten.
„Ich sage es ja,“ sagte Fräulein v. K., indem sie aufstand und sich dicht vor mich stellte, „Sie glauben mir nicht, vielleicht halten Sie mich sogar für verrückt oder von einer fixen Idee befangen, was am Ende dasselbe ist. Aber ich versichere hoch und theuer, daß ich bei vollem Verstande bin, daß kein Wahn mich befangen hält und daß ich Ihnen nur Erlebtes, thatsächlich Empfundenes mittheile. Hören Sie mir ruhig zu. Wollen Sie noch lachen, wenn ich fertig bin, so will ich Ihnen das in keiner Weise übel nehmen, ich hoffe aber, daß Sie von selbst davon zurückkommen werden.“
Meine Gefangene war vollständig ruhig, das Auge klar und rein, die Stimme fest; nichts wies auf eine Störung der Geisteskräfte hin. Und dennoch mußte das der Fall sein. Das kümmerte mich aber nicht; ich war es gewohnt, den Gefangenen als geistig krank anzusehen, ich machte darin keinen Unterschied und gab mir nur Mühe, den Sitz der Krankheit aufzufinden, um eine Heilung wenigstens versuchen zu können. Das Interesse war geweckt, die Neugier rege gemacht. Ich wollte bei meiner Gefangenen die schwache Seite auffinden, die angegriffen und verkümmert sein mußte, bekämpfte deshalb auch die Lachlust, und indem ich versuchte, die ernsthafteste Miene anzunehmen, veranlaßte ich Fräulein v. K., wieder Platz zu nehmen und in ihren Mittheilungen fortzufahren.
verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 497. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_497.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)