verschiedene: Die Gartenlaube (1866) | |
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Er trat mit einer gewissen Feierlichkeit in’s Zimmer. Lilli kannte die Eigenthümlichkeiten des alten Menschen genau und erkannte augenblicklich an dem Ausdruck seines breiten Gesichts, daß er eine wichtige Neuigkeit mit heimgebracht habe. Er rückte einen der hochbeinigen, ungepolsterten Eichenstühle an die Wand und indem er scheinbar prüfend die Stelle besah, wo das größte Bild hängen sollte, sagte er, ohne den Blick wegzuwenden:
„Die Frau Hofräthin können froh sein, Sie kriegen nun wieder Ruhe… Der da drüben,“ – er wagte nie, den Namen des Nachbars vor den Ohren seiner Herrin laut werden zu lassen – „ja, der da drüben geht morgen fort, in die weite Welt und gar über’s Meer; seine Siebensachen stehen schon fix und fertig gepackt. … Der Kutscher erzählte es beim Bäcker, wo ich die Torten bestellte.“
Lilli lehnte das Bild des Orestes, das sie eben in den Händen hielt, stillschweigend an die Wand, über ihre fest aufeinander gepreßten Lippen kam kein Laut. Sie schritt nach der Thür, fast mit den Geberden und Bewegungen des Nachtwandlers, den eine dämonische Macht vorwärts treibt. Die hohe Eichenthür fiel hinter ihr schwer in’s Schloß, aber weder die Hofräthin, noch der alte Sauer bemerkten es. Die Erstere nahm die Neuigkeit mit einem scheinbar gleichgültigen „So“ entgegen und wandte das Gesicht auf einen Moment nach den Fenstern, während der alte Sauer mit zitternden Knieen auf den Stuhl stieg. Die Pastellgemälde wurden von der Wand genommen und Sauer hing das Orestesbild versuchsweise an einen der alten, gelockerten Nägel, allein die Last war zu schwer. Kaum hatte er die Hände entfernt, als das Bild herabstürzte; durch einen ungeschickten Rettungsversuch Sauer’s fiel es sehr unglücklich, es wurde gegen den Kaminsims geschleudert und blieb dort an einer spitz hervorragenden Verzierung hängen, doch nicht der Rahmen, man hörte das feine, scharfe Geräusch der mürben, zerreißenden Leinwand.
„Na, aber das nehm’ Er mir nicht übel, Sauer, Er ist doch zu ungeschickt!“ rief die Hofräthin erzürnt.
Sauer verließ erschrocken den Stuhl und nahm das Bild herab; über das Gesicht des Orestes liefen zolllange Risse nach mehreren Seiten hin.
„Da seh’ Er her, was Er angerichtet hat!“ schalt die Hofräthin weiter und hob die klaffende Leinwand auf, aber entsetzt, als habe sie auf glühendes Eisen gegriffen, fuhr die Hand zurück und die fahle Blässe einer schreckensvollen Ueberraschung flog über das Gesicht der alten Dame: ein Paar großer, brauner, fremder Augen hatte feurig und doch in rührender Sanftmuth aus der Spalte zu ihr aufgeblickt.
„Geh’ Er hinaus, Sauer!“ stammelte sie und legte rasch ihre Hand bedeckend auf die Risse. „Die Bilder können später aufgehangen werden… Hinaus, hinaus!“ wiederholte sie in ausbrechender Heftigkeit und zeigte nach der Thür, hinter welcher der zerknirschte Sauer verschwand.
Ein tiefes Seufzen, das fast wie Stöhnen klang, rang sich aus ihrer Brust. Sie ergriff eine Scheere, mit bebender Hand, aber energisch und rücksichtslos durchschnitt sie das ehedem so ehrfurchtsvoll respectirte Gemälde, die Fetzen flogen zurück und von einem grünlich grauen Hintergrund erhob sich eine bezaubernd schöne Mädchengestalt und stand, vom wärmsten Lebensodem durchhaucht, vor den vergehenden Blicken der Hofräthin. Die lange Zeit der Haft war wirkungslos an der rosigen Frische dieser Züge vorübergestrichen; der Sonnenstrahl, der die mit bewundernswürdiger Meisterschaft gemalten Haarwellen goldig streifte, hatte willig und unbeschadet seines Glanzes die Gefangenschaft getheilt, und der braune Sammet des Gewandes, weich, ungezwungen und bis zur Berührung täuschend in seinem Faltenwurf, quoll unbestäubt aus dem goldenen Rahmen; unten in einer Ecke des Bildes stand der Name A. van Dyck.
„Er hat es doch gethan!“ murmelte die Hofräthin mit tonloser Stimme. „Und die Hubert’schen waren in ihrem Rechte, wenn sie ihn ‚Dieb‘ schalten … Schrecklich, schrecklich! … Und er hat weiter gelebt nach dieser elenden That und hat es geduldet und ruhig geschehen lassen, daß seine Angehörigen die Bestohlenen schmähten! … Darum also war sein letztes Wort ‚der Pavillon!‘ und dies letzte Wort ist wie ein heiliges Vermächtniß geehrt und behütet worden! … Alle Erichs sind in dem Bewußtsein heimgegangen, daß ihr Haß ein gerechter war; nur mir, der letzten, alleinstehenden wird die fürchterliche Erkenntniß, und ich, ich muß es dem da drüben eingestehen, daß die ehrenhaften Erichs durch achtzig lange Jahre hindurch – Hehler gewesen sind!“
Sie blickte starr auf das stille Gesicht, das so lieblich und harmlos in die Welt hinein lächelte, und dachte mit Schauder an jenen Moment, wo ihr Großvater, wahnwitzig vor Leidenschaft, Nachts in das offenstehende Haus der arglos vertrauenden Familie eingedrungen sein mußte, an jene einsamen Stunden, wo er, scheu hinter Schloß und Riegel sein unseliges Geheimniß bergend, jenen Oresteskopf malte, der beinahe ein Jahrhundert hindurch das Mädchenantlitz voll Unschuld und Grazie neidisch bedeckte und dafür der Welt die Qualen eines bösen Gewissens in seinen verzerrten Linien zeigte.
Die Hofräthin schwankte nicht einen Augenblick in der Ueberzeugung, daß das Bild dem rechtmäßigen Besitzer zurückgegeben werden müsse, und zwar ohne Zögern, denn er wollte ja morgen eine Reise antreten … Welch’ entsetzliche Aufgabe für sie! Sie mußte ihren bisherigen Widersacher bitten, daß er schonend mit der Ehre ihres Großvaters verfahre, dazu wollte sie sich überwinden; denn ihr strenges, unbestechliches Gerechtigkeitsgefühl sagte ihr, daß das vieljährige Unrecht gesühnt werden müsse … allein wenn sie daran dachte, daß der junge Mann ihr übermüthig und rücksichtslos entgegentreten könnte, da schoß ihr das Blut siedend nach dem Kopfe, sie fürchtete sich vor ihrem eigenen rasch aufbrausenden Temperament, das leicht Alles verderben konnte. Nach heftigen, inneren Kämpfen trat sie aus der grünen Stube, schloß die Thür hinter sich ab und rief in der Hausflur mit fast versagender Stimme nach Lilli aber sie erhielt keine Antwort.
Das junge Mädchen war, nachdem sie das Zimmer verlassen hatte, hinaus in den Garten gegangen. Es war, als ob sich ihr ganzes Denken in dem Satze „Er geht fort ohne Lebewohl“ concentrire; ihr frevelhaftes Wort „kreuzen Sie nie wieder meinen Weg!“ sollte in der That das letzte sein, das zwischen ihm und ihr gefallen … Unmöglich! … Sie schritt weiter; aber nicht auf dem langen Umwege der Kiespfade, querfeldein ging es durch Gemüsebeete und Buschwerk. Sie fühlte nicht, daß die glühende Nachmittagssonne auf ihrem Scheitel brannte; vergeblich rissen die Dornen der Hecken an ihren Kleidern und schrieen und schmetterten aufgescheuchte Vögel in dem Dickichte, als wollten sie die Dahinschreitende zurückhalten von einem Gange, der gegen Mädchenstolz und Sitte stritt. … Sie trat in den Pavillon. Da lagen noch die Trümmer der zerstörten Wand, und über sie und die einst durch Dortens fleißige Hände fleckenlos sauber gehaltenen Dielen hinweg lief ein vielbetretener Weg hinaus nach Tante Bärbchens Garten. Die Wandöffnung hatte sich bedeutend vergrößert; der Rest des Fachwerkes war zu einer niedrigen Stufe zusammengeschmolzen, die den Fußboden des Pavillons von einer schonungslos zusammengetretenen Blumenrabatte drüben schied.
Zum ersten Male lagen Haus und Garten im funkelnden Sonnenlicht vor ihr, diese kleine Wunderwelt, hervorgerufen durch einen künstlerisch fein und harmonisch empfindenden Geist, dies geliebte nordische Fleckchen Heimatherde, das er in allem Zauber, der Schönheit sehen wollte, wie der zärtliche Bräutigam die Braut! … Ueber die nickenden Blumenhäupter streifte ein feiner Luftzug, sie schüttelten sich leise, leise, wie im traurigen Verneinen, und das Geflüster der plätschernden Fontainen klang dem jungen Mädchen wie ein eintöniges Klagen, daß sie nun, ungesehen von Menschenaugen, einsam ihren Strahl gen Himmel tragen sollten, inmitten eines verödeten Eden. … Dort durch den stillen, kühlen Laubgang wandelte es langsam und schweigend; aber es war nicht jene todestraurige Frau mit dem schleppenden, weißen Gewande, die sich wie ein dräuender Schemen zwischen Lilli und ihre Liebe gestellt, er war es selbst. Er schritt, die Hände auf den Rücken gelegt, mit gesenktem Kopf näher und näher. … Wie hatte sie je hinter dieser lichtvollen Stirn Gedanken voll Unrecht und strafbarer, gewaltthätiger Leidenschaft vermuthen können? Wie war es möglich geworden, daß sie seinen innigen, die tiefste Liebe athmenden Worten gegenüber die Erinnerung an alte, verblaßte Familientraditionen, an ihre eigenen frevelhaften Vorsätze hatte festhalten können? Wie hatte sie je dem Gedanken Raum geben mögen, daß ihr Herz allmählich wieder in das Geleise seines ehemaligen Friedens zurückkehren werde nach dem tödtlichen Riß, den sie in unverantwortlicher Selbstüberschätzung zwei für einander bestimmten Seelen zugefügt hatte?
Er kam näher und näher, und sie wich nicht. Ihre feine,
verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 486. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_486.jpg&oldid=- (Version vom 5.7.2016)