Verschiedene: Die Gartenlaube (1863) | |
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Lange schon ruhen die Gebeine des kleinen, dünnleibigen Calculators Stockmann von diesem Erdenwallen aus. Derselbe erlebte aber so viel Wunderbares, da´wir es für werth halten, Einiges davon unsern Lesern mitzutheilen, und zwar gerade so, wie er es selbst zu erzählen pflegte.
Ich sitze eines Freitags Nachmittags in meiner Expedition und ’s war mer ä bischen nich iebel, und ich schob’s auf den Freitag, weil das ä Unglückstag is, aber ’s war äne böse Schwanung! – Uff emal stürzt Kahtschmann mit Gebern rein, reißt mich mit enen Griff von meinen Drehstuhl und schreit mich an: „Um Gotteswillen kommt gleich zu Reinharden, der hat’s Streckfieber!“
„Seid Ihr verrückt,“ sage ich, „das Streckfieber, das ist ja gar keene Krankheet?“
„Ach, er wird von Stunde zu Stunde länger,“ schluchzt Geber hinter seinen Schnupptuche vor.
Nu wurde mir denn die Sache doch bedenklich, ich ziehe meine Schreibärmel runter, und trapp, trapp zu Reinharden. – Schon von außen wurde mir merkwürdig zu Muthe, denn de Rollohs waren alle runtergezogen und ich hörte auch schon leises Wimmern. Mir gehn alle uff den Zehen nuff, Kahtschmann voran. Ich trete ein, und ich bitte Sie, meine Herrn, wie ich reintrete, sehe ich Reinharden in einer Länge von 7 Ellen vor mir liegen un uff seiner Nase saß äne große Fliege und dabei jammerte der arme Kerl immer: „Schlagt mich todt, ich kann’s nich mer aushalten, o wie das zieht, wie das streckt!“
„Aber Karl,“ sage ich – –
Und da gab er mir uff ämal än solchen Puff vor den Leib, daß ich bis in die Ecke flog, und ’s fand sich, er fantasirte schon.
„Aber Karl,“ sagte ich aus der Ecke, denn mit Patienten muß man Geduld haben, „was haste denn gemacht? Biste vielleicht zu tief gefallen, oder zu weit gesprungen, siehste, das kommt von Deiner verfluchten Gymnastik!“
„Schmeißt den Mensch naus!“ schriet er uff emal und wies uf mich, und wurde bei dem letzten Worte grade um 1 Elle 17 Zoll länger, so daß noch zwei Stühle untergeschoben werden mußten, und die Kammerthüre ufgemacht. Na, dachte ich, helfen kann man hier doch nich un ging ganz alterirt nach Hause und meine Frau aß och keenen Bissen, wie ich ihr die Geschichte erzählte.
Glücklicherweise geht’s ihm jetzt wieder besser. Die Aerzte haben ihn Essigumschläge und sonst zusammenziehende Mittel verordnet und er soll schon um 3 Ellen wieder kürzer geworden sein.
Und’s kam doch von der Gymnastik, wie mir der Doctor sagte, denn er hatte sich so lange am großen Schwungseile angehalten und erst losgelassen, wie ihn schon alle Knochen krachten.
P. S. Die böse Welt fügt hinzu, besagter Reinhard habe sich auf ein ellenlanges Brett gelegt; dann habe man ihn mit dem Brette auf 6 Stühle gehoben, und um das Ende des Brettes zwei Stiefeln gelegt, und das ganze derart mit Betten überdeckt, daß Herr Calculator Stockmann nur den Kopf und die vermeintlichen Füße seines Freundes sah, weshalb er an das Streckfieber bis an sein seliges Ende glaubte und es für die fürchterlichste Krankheit erklärt hat.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1863). Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 839. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_839.jpg&oldid=- (Version vom 6.10.2024)