verschiedene: Die Gartenlaube (1862) | |
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auch zum Director des pathologischen Instituts und einer Abtheilung der Charité. Dem ersteren verlieh Virchow eine totale Umgestaltung, so daß es heut das ausgedehnteste und bedeutendste in seiner Art ist.
So wurde die Epoche, in der das Volk lethargisch die Reaction wirthschaften ließ, von Virchow mit glänzenden wissenschaftlichen Erfolgen ausgefüllt. Er war gerade auf einem ruhefordernden Höhepunkt als Gelehrter, da erwachten die Geister wieder, um von Neuem mit dem Feind des Fortschritts zu ringen. Nun lebte auch in Virchow wieder der Sinn auf, aus der Studirstube in die offene Arena des politischen Lebens zu treten und hier für die Sache des Volks und des Fortschritts mitzukämpfen. Beim Seciren der Leichen hatte er für den frischen Geist des Lebens die Theilnahme niemals verloren; aber was er im Jahre 1848 nur mit dem Feuer der Jugend begeisterungsvoll erfaßte, das war jetzt zu einer unerschütterlichen Ueberzeugung in ihm geworden, und mit der Ruhe des Mannes erfaßte er die Ziele, nach denen die Idee der Zeit sich zuwälzte. Der Student der Politik war, so zu sagen, jetzt auf die Praxis angewiesen. Die jüngere Demokratie machte die Bewegung von 1848 wie ein Universitätsjahr durch, und als sie in’s praktische Leben trat, nahm sie den Boden, wie er war, d. h. sie fand einen Verfassungsstaat vor, über dessen Grenzen hinaus sie nicht wollte, aber dessen Ausbau und Festigung ihre Aufgabe blieb. Darin liegt der Unterschied zwischen der alten Demokratie und der jüngeren in Preußen, daß jene mit dem octroyirten Verfassungsstaat im Stillen lange grollte und auch wesentlich preußisch war, diese aber auf dem Boden der Verfassung von 1850 wie auf einem heimischen stand und vor Allem die deutschen Interessen Preußens in’s Auge faßte. Diese Andeutung hielten wir für nöthig, um die Stellung Virchow’s im politischen Leben genau erkennen zu lassen, die Idee seiner Thätigkeit nach dieser Richtung hin. Es ist dies um so wesentlicher, als er eins der hervorragendsten Häupter der jüngeren Demokratie ist, die das wahre und erhaltende Stammelement der deutschen Fortschrittspartei bildet.
Die erste Gelegenheit, eine öffentliche Thätigkeit zu entfalten, fand Virchow durch seine Wahl zum Stadtverordneten. Er war als solcher einer der Entschlossensten, das Patzke’sche Polizeiregiment zu stürzen. Als bei den Wahlen im Jahre 1861 namentlich die jüngere Demokratie zum ersten Mal vom Volk berufen wurde, die constitutionelle Form nun endlich einmal mit wirklichem Inhalt zu erfüllen, da erhielt auch Virchow von Berlin wie von Saarbrücken Mandate.
Gleich bei der ersten und der einzigen größeren Debatte des neuen Abgeordnetenhauses, der über Kurhessen, zeigte sich Virchow als der entschlossene, schonungslose Kämpfer, als gewandter und glänzender Redner. Er ist kaltblütig, nüchtern, der zersetzende Anatom spricht aus ihm; er zergliedert unerbittlich die Argumente des Gegners, und hat er dann die Blößen desselben aufgedeckt, so stößt er schnell und fest, mit der Eleganz eines Fechters, sein Floret in dieselben. Die kalte Ruhe und die scharfe Ironie macht ihn zu einem gefährlichen Feind. Er trat instinctartig gegen die Altliberalen, gegen das Vincke’sche Sophistenwesen auf, mit Erbitterung und Rücksichtslosigkeit; denn lange, ehe es aller Welt klar wurde, erkannte er, daß diese Halbheit jener Partei und der Einfluß, den sie im Parlament besaß, indirect der Sache des Fortschritts den meisten Schaden brachte; denn sie scheute sich nicht, Principe des Constitutionalismus zu mißbrauchen, um nur ihrer Eitelkeit und ihrem Ehrgeiz genügt zu sehen. So glücklich Preußen auch unter den Liberalen war, so ist ihnen doch gewiß, ihrer Halbheit und Schwäche wegen, alles spätere so schwere Unheil zu danken.
Virchow erwies sich zugleich als einer der rastlosen Arbeiter in den Commissionen, ein Umstand, den man bei den preußischen Abgeordneten immer sorgfältig hervorheben muß. Er versteht es, sich mit durchdringendem Geist schnell zum völligen Herrn ihm fremder Materien zu machen, und in den Sitzungen dieses Sommers trat deutlich genug diese Mannigfaltigkeit seines Wissens, dieser brennende Eifer, Allem auf den Grund zu sehen, zu Tage.
Eine angreifende, energische Natur, die nicht stürmt, aber fest auf ihr Ziel losgeht, setzte Virchow auch bei jeder Gelegenheit den Hebel an, Mißbrauche und Steine des wahren Constitutionalismus fortzuschaffen und unverfälschte Grundsätze an deren Stelle zu setzen. Er war als Mitglied der Budgetcommission in richtiger Vorahnung des Kommenden schon im März 1862 mit dem Antrag hervorgetreten, die Regierung zu verpflichten, den Etat des nächsten Jahres vor Beginn desselben berathen zu lassen. Wenn damals dieser Antrag fallen gelassen wurde, so lernte man einige Wochen später erkennen, wie übel diese Rücksicht vergolten wurde. Und heut ist ein Hauptpunkt des Streites zwischen dem Ministerium und der Volksvertretung, daß das Budget für 1863 nicht zur Berathung und Feststellung gekommen ist.
In dem Kampf, der nach dem Rücktritt der liberalen Minister um die Bedeutung der verfassungsmäßigen Rechte begann, war Virchow immer unter den Vordersten und Muthigsten, für diese Rechte des Abgeordnetenhauses einzutreten. Mit dem Hagen’schen Antrag ward dieser offene Kampf begonnen; heut ist er bis auf die Grundlage der Verfassung gedrungen. Virchow hat die Bedeutung des Hagen’schen Antrages für die größere Specialisirung der Etats in klarer Weise in der Nationalzeitung aus einander gesetzt; er hat in der Adreßdebatte des neugewählten Abgeordnetenhauses dem Mißtrauen gegen das Ministerium v. d. Heydt unverhohlen Ausdruck gegeben; über den Antrag bezüglich der Anerkennung Italiens hielt er eine der durchschlagendsten Reden, und in dem dann folgenden Hauptkampf um die Budget- und Militärfrage hatte er sowohl in der Commission wie im Plenum seinen Degen immer fest auf den Gegner gerichtet. In der Debatte über die Reorganisation wies er in gedrungener Logik die Ungesetzlichkeit derselben nach und vertheidigte das Princip der Landwehr mit Citaten aus einem Werk des Kriegsministers. Bei der letzten Debatte, welche sich um die Wiedereinbringung des vom Ministerium zurückgezogenen Etats für 1863 bis vor Ablauf des laufenden Jahres und um die Verfassungswidrigkeit der ohne Genehmigung des Abgeordnetenhauses verausgabten Gelder drehte, folgerte er schlagend aus den eigenen Auslassungen der Krone das verfassungsmäßige und jetzt von der neuen Reaction bestrittene und bedrohte Recht des Abgeordnetenhauses, das Recht der Geldbewilligung und Verweigerung.
Zugvogel.
Es war im Sommer des Jahres 1817. Theuerung und Noth, verursacht durch zwei auf einander folgende Mißernten, hatten fast überall in Deutschland den Bestand der Theaterunternehmungen in Frage gestellt. Ich kam von einem bekannten Stadttheater am Rhein, dessen Director durch die in solcher Zeit leicht erklärliche Theilnahmlosigkeit des Publicums bankerott geworden war, und sah mich nun nach einem bescheidenen Engagement um, wo ich eine günstige Wendung der Verhältnisse abwarten konnte. Ein Theateragent legte mir ein langes Verzeichniß von Vacanzen vor, verschwieg mir aber nicht, daß alle ihm bekannten Directionen tief verschuldet wären, und daß außer den Hoftheatern nur diejenigen Bühnen von der drohenden Katastrophe verschont bleiben könnten, die für die ganze Dauer der diesmaligen Sommersaison ihre Pforten geschlossen hätten. Hoffnungslos kehrte ich in den Gasthof zurück, und da es gleichgültig war, wohin ich mich wandte, so bestieg ich eine Stunde später ein Dampfschiff, um anderswo mein Heil zu versuchen. Ich mochte ein paar Stunden lang auf dem Verdeck meinen Gedanken Audienz gegeben haben, als das Läuten der Schiffsglocke die einförmige Fahrt auf eine kurze Weile unterbrach. Ich fragte, welche Station wir erreicht hätten, und man nannte mir einen Namen, der in einem sehr ausführlichen geographischen Handbuche gewiß zu finden, mir aber so neu war, wie irgend ein Weiler im Innern Australiens. Am Ufer sammelte sich, wie gewöhnlich, ein müßiger Haufe, der das täglich um dieselbe Stunde wiederkehrende Ereigniß wie etwas nie Dagewesenes anstaunte; eilfertige Passagiere gingen und kamen, und neugierig betraten Andere das Verdeck des Schiffes, um während der schnell verrinnenden Pause nach irgend einem erwarteten
verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 750. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_750.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)