verschiedene: Die Gartenlaube (1862) | |
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die große Friedenshymne läuteten – am meisten dem Kaiser des zweiten December zu Ehren, der seine Adler über’s Meer gesandt! Sie erschienen fünfundzwanzig Jahre nachdem Victor Hugo zum ersten Male seine Leier geschlagen! Wohl waren sie die Memoiren seiner Seele. … Er erzählt von dem Tod des Erstgebornen, von dem verzweiflungsvollen Schmerz der Mutter, die sich nicht trösten kann, als ihr der Himmel ein zweites Kind schenkt …
Nein, nein! Ich will es nicht! Du blicktest neidend her,
Mein süßes, todtes Kind dort in der starren Erde!
Du sagtest: „Ach, vergessen bin um ein andres ich!
Die Mutter liebt’s und lacht, es ist so lieb und schön!
Sie hält’s im Arm und ich – ich lieg’ in meinem Grabe!“
Plötzlich flüstert eine leise Stimme in den Vorhängen ihres Kindbettes: „Mutter, weine nicht mehr, ich bin’s ja!“ Wie schön ist dieser Mutterschmerz, dieser Glaube an die Unsterblichkeit der Seele ausgedrückt!
Ja, diese Gedichte sind Memoiren einer Seele! Victor Hugo beschreibt den Tod seiner Tochter in den Fluthen der Seine, den Tod ihres Gatten Charles Vaguerie, der sie retten wollte und verzweiflungsvoll sich ihr nachstürzte, als sie zuletzt in den Wellen versank … Die Priester wollten ihm dafür kein Todtengebet halten – was wissen sie von dem Selbstmord aus heroischer Liebe! Aber Victor Hugo widmete Beiden einen halben Band. Und darin steht die einfache, ergreifende Betrachtung „à celle qui est restée en France“ (an Die, welche in Frankreich geblieben):
Nicht wahr, sie weiß, es ist nicht meine Schuld,
Daß seit vier Jahren, armes Herz im Dunkel,
Ich nicht an ihrem Grabe konnte beten.
Liegt in diesen Strophen nicht der tiefste Schmerz des Dichters ausgedrückt, daß er sein Vaterland nicht mehr betreten durfte? - Auch auf Jersey durften die französischen Flüchtlinge nicht bleiben. Victor Hugo übersiedelte nun nach der anderen normannischen Insel, nach Guernsey, wo 1809 auch der tapfere Herzog von Braunschweig mit einem Theil seiner schwarzen Jäger eine Zufluchtsstätte vor Napoleon gefunden. Wohl war, nachdem alles Hoffen auf ein Zusammenbrechen der napoleonischen Despotie sich als vergeblich herausgestellt, die Ruhe allmählich in dies Herz, so reich an Empfindungen, zurückgekehrt – es hatte ja in den „Contemplations“ sich auch ausgeweint! Aber in dieser Ruhe der Seele lag der alte Schmerz gebettet, und dieser Schmerz hatte weiter genagt. Die Resignation war aus der Verachtung der Welt und vieler ihrer Einrichtungen, ihres Hokuspokus und ihrer Heuchelei hervorgegangen; aus der sittlichen Entrüstung über eine Gesellschaft, welche die Elenden, die sie selbst erzeugt, wie Gebrandmarkte von sich stößt, aber vor anderen, die sich eine Macht verschafft haben, im Staube kriecht. Diese Empfindungen haben in dem neuesten Werke Victor Hugo’s, in dem Roman „les Misérables“, ihren verschiedenartigen Ausdruck gefunden. Hier deckt er als Grundübel alles Elends, speciell des Proletariats, der Prostitution und der Unwissenheit, den Organismus der modernen Gesellschaft auf und macht die Gesetze für die moralische Verkommenheit verantwortlich. Das Buch ist zugleich eine Predigt des wahren Christenthums, der natürlichen Religion der Liebe – in Folge dessen sind auch alle pfäffischen Journale in Frankreich, Belgien, Spanien etc. mit Berserkerwuth darüber hergefallen. –
Zehn Jahre sind es nun, daß Victor Hugo aus dem Exil hinüber über’s Meer nach dem geliebten Frankreich blickt. Zu seinen Füßen stirbt die Welle, die an der Küste der Heimath geleckt; ihr Tod ist ein Gruß von drüben – eine andere trägt seine Grüße über den Meeresarm. Und spritzt auch der Gischt an den Klippen empor, braust die Brandung auch wild um das Eiland, seine neue Heimath – immer, doch immer schweift sein sanfter Blick sehnsüchtig hinüber nach Frankreich! Und wie Viele sind ihrer noch, die mit ihm über’s Meer in’s Exil getrieben wurden? Verdorben und gestorben sind ihrer Unzählige; zurückgekehrt als Begnadigte, gebrochenen Sinnes und kranken Herzens, sind ihrer nicht minder! Und sie Alle, Alle – ach, als das Schiff sie von den Gestaden trug, hinaus auf die See, nach einer neuen Heimath, da standen Thränen in Jegliches Augen. Noch immer, nach mehr als zehn Jahren, erscheinen vor meinem Gedächtniß die kräftigen, braunen, bärtigen Gestalten, die damals der Sieger der Decembertage aus den Kerkern in die Verbannung, aus Belgien nach England getrieben; noch immer seh’ ich ihre feuchten Augen, glänzend im Abendsonnenschein und hinstarrend nach den entschwindenden Nebelstreifen der französischen Küste; noch immer tönt mir das schöne Klagelied der Verbannten in den Ohren, gesungen von Hunderten, wenn das Herz ihnen zu voll war; von Einzelnen, wenn sie die Thränen wegbannen wollten; von Männern und Frauen, andächtig wie ein Gebet …
Les oiseaux. ils volent toujours
Vers ma patrie et vers mes amours!
Erinnerungen an Heinrich Heine aus dem Jahre 1851.
Der oben erwähnte Kosmopolitismus Heine’s findet sich in vielen Stellen seiner Schriften; derselbe giebt die Erklärung dafür, wenn Heine Manches bei den Franzosen zu überschätzen scheint. Das deutsche Volk ist von allen Völkern der Erde das einzige, bei dem der Kosmopolitismus sich nicht allein heimisch, sondern auch auswärts zerstreut findet. Vermöge unseres Kosmopolitismus erblicken wir in allen fremden Zuständen ein Eldorado und bewundern z. B. den Roman, das Lustspiel eines Franzosen, die, wenn sie der Feder eines deutschen Autors entflossen wären, sicherlich bei uns Fiasco gemacht haben würden. Diesen Kosmopolitismus betrachte ich als eine Hauptursache unserer politischen Machtlosigkeit, denn nicht blos unsere Dichter und Gelehrten leiden daran, sondern auch unsere Diplomaten und Feldherrn. Wenn wir dieses Nationalfehlers uns nicht entschlagen und unsere kosmopolitischen Sympathien eine Zeitlang unter Schloß und Riegel legen, werden wir niemals zu einer politischen Macht und Einigung gelangen. Um ohne Nachtheil vielseitig sein zu können, muß man zuvor einseitig gewesen sein.
Für die damaligen Zustände in Frankreich offenbarte Heine eine nur sehr geringe Theilnahme, während er die Entwicklung der deutschen Verhältnisse mit dem größten Interesse verfolgte. „Die französischen Zustände,“ sagte er eines Tages zu mir, „amüsiren mich nur, Interesse empfinde ich allein für die deutschen. Ich darf mich aber nicht zu sehr mit ihnen beschäftigen, weil die trüben Nachrichten, die von drüben einlaufen, mich stets so aufregen, daß sie jedes Mal eine Verschlimmerung meines Befindens herbeiführen.“
Ja! Heine’s Herz schlug nur für Deutschland, und wenn es ihm auch nicht vergönnt gewesen ist, seiner Asche in vaterländischer Erde eine Ruhestätte zu verschaffen, so werden seine Manen doch über den Gauen des Landes schweben, das ihn geboren hat.
Viel Interesse zeigte der Dichter für Schleswig-Holstein. Wie hätte das auch anders sein können, zumal er ja so lange in Hamburg gelebt hatte, in einer Stadt, die durch so mannigfaltige Bande mit diesen beiden Ländern verknüpft ist und als die natürliche Hauptstadt der beiden durch deutsche Diplomatie jetzt getrennten Schwesterlande betrachtet werden kann. Ueber diese Angelegenheit äußerte Heine sich folgendermaßen: „Der Kampf zwischen Dänemark und Deutschland ist deshalb sehr zu bedauern, weil er zwischen zwei verwandten Stämmen stattgefunden hat, die in ihrem ganzen Volkscharakter so viel Ähnlichkeit miteinander haben. Der Däne und der Holste sind in Hinsicht ihres Nationalcharakters bei weitem nicht so verschieden, wie der Holste und der Schwabe. Schleswig-Holstein ist übrigens in diesem Augenblicke noch nicht so sehr zu beklagen, als wenn es unter ein slavisches Regiment gekommen wäre. Ueberdies steht zu hoffen, daß die Dänen zur Besinnung gelangen werden; denn im Allgemeinen hat dieses Volk in seiner ganzen Geschichte viel Rechtssinn gezeigt. Zu bedauern ist nur, daß in den Gegenden der Herzogthümer, die jetzt danisirt werden, das moralische Gefühl der Einwohner augenblicklich mit Füßen getreten wird. In sprachlicher Beziehung ist es einerlei, ob jetzt so und so viel Schleswiger weniger Deutsch lernen. Es ist
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Die Vögel, sie fliegen immerdar
Der Heimath zu und meinen Lieben
verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 487. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_487.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)