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Seite:Die Gartenlaube (1861) 750.jpg

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861)

halb abergläubische Angst ergriff sie; fort, nur fort aus der Nähe dieses Ortes! drängte es in ihr; sie fühlte es nicht, daß sie von dem scharfen Schritte, welchen sie angenommen, fast außer Athem war, und als sie an die Hauptstraße gelangte, wo sie vorher den Gemüsehändler erwartet, wäre sie, ohne sich nur ihrer Umgebungen bewußt zu werden, wohl in der Richtung nach der Stadt weiter geeilt, hätte sie nicht Reinert durch einen lauten Zuruf zum Aufsehen gebracht. „Wollen Sie noch weiter mit mir gehen und der ganzen Gesellschaft hier den Rücken zeigen, so sind Sie bei uns von Herzen willkommen, Miß,“ setzte dieser hinzu, „was Sie hier haben mögen, finden Sie wohl an zehn andern Orten. Dann aber, denke ich, nehmen wir gleich Ihr Gepäck mit, es erspart einen zweiten Weg!“

Lucy stand, sich mit voller Kraft sammelnd, und warf einen Blick nach ihrer bisherigen Heimath, wo die Kinder auf sie warteten und Flora wohl vergebens sie zu beruhigen strebte – und dann einen Blick in der Richtung nach der Stadt, die für sie kaum besser war als das weite unbekannte Meer; aber sie wußte, daß sie an der Grenze ihrer bisherigen Wirksamkeit stand, daß es das erste Gebot ihrer Ehre, gegen welche keine andere Rücksicht aufkommen konnte, war, das Haus vor ihr nur noch einmal zu betreten, um es zu verlassen, und sie konnte nur noch mit sich in Zweifel sein, auf welche Art dies Letztere geschehen sollte.

„Wenn Sie und Ihre Frau mir für eine kurze Zeit Schutz und Aufnahme gewähren wollen, Mr. Reinert, so werde ich schnell meine Sachen zusammenpacken und mit Ihnen gehen!“ sagte sie langsam; „ich habe noch so viel Mittel, um Ihnen nicht zur Last fallen zu müssen –“

„Heiliges –! lassen Sie mich nicht fluchen, Miß, was kümmern mich denn Ihre Mittel!“ fuhr Reinert in gutmüthigem Aerger auf, „können wir Ihnen denn nicht einmal einen Gefallen thun, wenn wir auch nicht zu den feinen Leuten gehören? Im Uebrigen ist es mir ein wahres Vergnügen, daß die Geschichte gleich einschlägt, wie sie soll, und sie werden jetzt hier herum wissen, wie sie mit den Deutschen d’ran sind. Nur los jetzt und packen Sie ruhig zusammen, ich kann mir Zeit nehmen zum Warten!“

Der kurze Weg nach Wood’s Hause ward eingeschlagen; je näher Lucy diesem aber kam, je mehr drängten sich neue Bilder zwischen sie und die angethane Schmach. Sie sah den Major, wie er heimkehrend ihre schnelle Entfernung erfahren, wie er in der unangenehmen Ueberraschung ihre Gründe kaum voll genug würdigen werde – sie mußte ihm einige Zeilen hinterlassen, doch kaum wußte sie noch, wie in wenige Worte das zu legen, was sie hinwegtrieb, trotzdem alle Fasern ihrer Seele sich hier hätten anklammern mögen. Dann traten die Kinder vor ihren Blick – sie durften nichts von ihrem Entschlusse erfahren, sie wären mit ihren schwachen Händen allein im Stande gewesen, ihre Stärke zu brechen – da hielt der Wagen vor der Einzäunung des Rasenplatzes, und Reinert rief halblaut: „Nun in Gottes Namen, Miß, und vergessen Sie nicht, wenn Ihnen etwas in den Weg kommen sollte, daß ich hier halte und bei Ihnen sein kann, sobald Sie nur wollen!“

Lucy wandte sich rasch dem Hause zu und stieg nach ihrem Zimmer hinauf, wo ihr bereits der Lärm der Kinder entgegenklang. „Da ist Miß Lucy!“ hörte sie beim Eintreten Flora’s Stimme, und im nächsten Augenblicke fühlte sie auch schon ihre Hände und ihr Kleid unter den verschiedensten Ausrufungen gefaßt. Sie bog sich herab, küßte unter mühsam zurückgehaltenen Empfindungen jeden ihr zustrebenden kleinen Mund und sandte die Kinder dann mit der Mahnung in’s Freie, auf den ersten Ruf wieder zurück zu sein. – „Ich gehe weg, Flora,“ wandte sie sich nach einer kurzen Pause, die zu ihrer Fassung nöthig gewesen, an die Mulattin, „räumen Sie die Kasten aus, in zehn Minuten muß mein Koffer gepackt sein – je rascher Sie sind, je mehr werde ich Ihnen erkenntlich sein!“ Die Mulattin aber sah sie mit groß aufgerissenen Augen an, und als sich das Mädchen nach dem Schreibtische wandte, schlug sie die Hände mit einem: „O, du mein Gott, auch das noch!“ zusammen. „Aber ich hab’ es doch gewußt,“ fuhr sie wie im ausbrechenden Jammer fort, „wo die Teufel sind, kann ein Engel nicht bleiben! Was wird der Major sagen!“ Dann indessen, wie sich zusammenraffend, mit wunderlich zuckendem Gesichte, riß sie Lucy’s Koffer aus einer Ecke hervor, öffnete die Kommode und begann unter Kopfschütteln und halblaut gemurmelten Ausrufungen die ihr befohlene Arbeit.

Unterdessen hatte Lucy, ohne den bei ihrem Morgenspaziergange gebrauchten Hut abzulegen, sich zum Schreiben gesetzt und begann nach einem kurzen, nachdenklichen Blicke durch das Fenster, während dessen die Erregung in allen ihren Mienen zitterte:

„Sir! Es giebt Lagen, welche selbst die heiligsten Vorsätze, die freudigste Bereitwilligkeit, für das Glück Anderer jede Selbstgenugthuung zu opfern, sowie die eigenen Herzensbedürfnisse machtlos machen können – und in einer solchen befinde ich mich augenblicklich. Ich muß Ihr Haus verlassen, ohne im Stande zu sein, Ihre Rückkehr abzuwarten und mich gegen Sie zu rechtfertigen; ich thue es mit blutendem Herzen, aber ich kann nicht anders. Wenden Sie sich an Ihren Nachbar, Mr. Brown, er wird Ihnen bessern Aufschluß über das, was mich forttreibt, zu geben vermögen, als ich es thun könnte. Ich wiederhole es noch einmal, ich gehe mit blutendem Herzen, ich hätte mit jedem Opfer das auf mich gesetzte Vertrauen verdienen mögen, nur nicht mit dem meiner Ehre. Die mir übergebene Banknote schließe ich wieder bei, da ich ihrer zu meiner augenblicklichen Existenz nicht bedarf, ohne damit indessen einer vollen Anerkennung der Freundlichkeit, welche mir Ihrerseits während meiner Anwesenheit in Ihrem Hause geworden, Eintrag thun zu wollen. Gestatten Sie, daß ich mich nenne Ihre dankbare
Lucy Hast.“

Sie überlas nochmals bedächtig das Geschriebene, schloß es mit der erwähnten Banknote in ein Couvert, das sie in festen Zügen mit der Adresse versah, und trat dann zu Flora, die letzte Hand an das Packen ihrer Habseligkeiten legen. „O, der einzige Stern im Hause sinkt unter, wenn Sie gehen, Miß,“ sagte die Mulattin, „aber dann wird der Master wenigstens merken, wen er an die Spitze seinen Hauses gesetzt – mein Kind war nur von schwarzem Blute und konnte nicht gegen das weiße aufkommen – aber jetzt –! O ich gönne es ihnen und ich werde es noch erleben, was dem alten Herzen wohlthut!“ Und als der Koffer geschlossen war, sprang sie lebendig davon, um einen Neger zum Hinabschaffen desselben herbeizuholen.

Lucy hatte der alten Dienerin den Brief zur Besorgung übergeben, die Kinder unter ihre sorgsame Obhut bis zur Zurückkunft des Majors empfohlen und ihr Gepäck auf den Wagen des eifrig zugreifenden Gemüsehändlers laden lassen. Zu ihrer Erleichterung war sie der Kinder nicht wieder ansichtig geworden und die Einladung ihres deutschen Freundes, den Sitz neben ihm einzunehmen, ausschlagend, wanderte sie rasch neben dem Fuhrwerke der Stadt zu. Nur eine kurze Zeit war sie in ihrer bisherigen Stellung gewesen, aber fast war es ihr, als müsse sie damit einer ganzen Lebenshoffnung Lebewohl sagen. Immer und immer wieder stieg das Gesicht des Majors in den verschiedenen Ausdrucksweisen, in welchen sie es hatte kennen lernen, vor ihr auf, und sie meinte schon seine Miene zu sehen, mit welcher er ihren Brief empfangen würde – ein Schmerz ging bei der letzten Vorstellung durch ihr Inneres, den sie sich selbst kaum erklären konnte, bis sie endlich an die Kinder dachte, die jetzt wieder ohne Freundin, ohne Mutter dastanden, und sie meinte nun ihre lebendigen Empfindungen zu verstehen.

Auf seinem Wagen saß der Gemüsehändler, sorgsam den Schritt seines Pferdes nach dem des Mädchens regelnd und immer wieder einen still beobachtenden Blick in ihr Gesicht werfend. Einige Male bereits schien er zum Sprechen anzusetzen, aber die Worte stets wieder zu verschlucken, bis die ausgedehnte Häusermasse der Stadt am Horizonte sichtbar ward. „Sehen Sie einmal dorthin, Miß,“ rief er, „dort wohnen mehr als hunderttausend Menschen, die alle ihren Lebensunterhalt finden, jeder in seiner Art, fein und grob; und es giebt Wenige, die nicht lustig sein könnten, Jeder in seiner Manier, wenn sie sich nicht selbst das Leben trübe machen also lassen Sie das Sinnen und Kopfhängen; was da hinter Ihnen liegt, ist abgethan, und nun frisch los auf’s Zukünftige. Was es werden soll, wird sich schon finden, und wenn Sie Eins thun wollen, so nehmen Sie sich das nächste Mal vor den Amerikanern in Acht!“

Lucy, aus ihren Gedanken gerissen, konnte nur einen freundlichen Blick nach ihrem Tröster hinauf werfen; an ihre Zukunft hatte sie noch kaum selbst gedacht, aber Eins fiel beruhigend in ihre Seele: die Stadt war groß, und mit ihren Kenntnissen durfte

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verschiedene: Die Gartenlaube (1861). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1861, Seite 750. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1861)_750.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)