verschiedene: Die Gartenlaube (1860) | |
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Karabiner in Bereitschaft, um in jedem Augenblicke Feuer geben zu können. An einer dicken Eiche trafen sie zusammen und flüsterten leise miteinander.
Dann stellten sie sich schweigend hinter der Eiche auf, die Augen und die Mündungen ihrer Gewehre nach dem Hügeleinschnitte gerichtet, aus welchem der Schritt hervorkommen mußte. Die französischen Gensd’armen, welche in Deutschland verwendet wurden, waren meist sehr gewandte, erfahrene Leute, auch die Deutschen unter ihnen, und der Deutschen waren unter ihnen viele.
Ein ältlicher Mann kam zum Vorschein. Er ging langsam und sorglos, wie ein Spaziergänger.
„Er darf uns nicht sehen,“ flüsterte der eine Gensd’arm dem andern zu.
Ihr Auge suchte zu erforschen, an welcher Seite der Eiche der Spaziergänger vorübergehen werde. Sie verbargen sich an der entgegengesetzten Seite. Ganz entfernen konnten sie sich nicht mehr, ohne gehört und gesehen zu werden.
Der Spaziergänger kam näher. Es war eine große, hagere, knochige Gestalt. Er hielt sich gebückt. Das Gesicht war blaß, tiefe Runzeln durchfurchten es. Die Augen waren von grauen, tief hervorhängenden Brauen überschattet; die Oberlippe bedeckte ein weißer, kurz geschorener Schnurrbart; kurz geschoren waren auch die fast schneeweißen Haupthaare. Das Ganze des Greises, Gesicht, Gestalt, Haltung, zeigte Kraft, Gram und Trotz; eine Kraft, die der Gram brechen wollte, die der finstere, fast menschenfeindliche Trotz aufrecht hielt. Er ging an dem Baume vorüber, aber seine Augen waren unter den finsteren, buschigen Augenbrauen aufmerksamer gewesen, als die Gensd’armen vermuthet hatten. Er sah sie in ihrem Versteck und stutzte, doch nur einen Augenblick. Er sah sie ruhig, voll, nachdenkend an, als wenn er sie und sich fragen wolle, was sie hier machten. Dann ging er, langsam wie er gekommen war, tiefer in die Schlucht hinein. Er hatte keinen Augenblick seinen gleichförmigen Schritt gehemmt.
Nach einer Weile blieb er stehen und schien sich zu besinnen, ob er seinen Spaziergang fortsetzen solle oder nicht.
Die Gensd’armen hatten sich nicht gerührt. Ihr Blick hatte ihm gezeigt, daß sie ihn sahen, ihn aber nicht beachteten. Sie beachteten ihn dennoch.
„Er bleibt stehen. Es ist unangenehm, seine Anwesenheit kann uns verrathen.“
„Wir können ihn nicht entfernen. Jedes Geräusch, jedes Wort könnte Alles vereiteln.“
„Wer ist der Mensch?“ fragte der Eine, der in der nächsten Gegend fremd zu sein schien. „Er hat ein militairisches Aussehen.“
„Der Mann ist ein Geheimniß.“
„Wie, die kaiserliche Gensd’armerie duldet Geheimnisse? Gar an der Grenze?“
Der Gefragte wollte antworten, aber der Andere ließ ihn nicht dazu kommen.
„Horch!“ rief er auf einmal in noch leiser flüsterndem Tone.
Sie hatten schon Beide ihre Gewehre wieder in schußgerechte Lage gebracht. Dann standen sie unbeweglich, wie vorher. Sie hörten in der That etwas; es war wieder ein einzelner Schritt, der sich nahete und ebenfalls von der Hügelkette herkam, also aus dem Innern des französischen Reichs, und wollte hin nach der Grenze. Aber er kam nicht aus dem Einschnitte in der Kette, oben auf einer Anhöhe wurde er gehört. Die Gensd’armen horchten mit der gespanntesten Erwartung nach ihm. Sehen konnten sie nichts. Die Anhöhe war mit hohen Bäumen und darunter mit dichtem niedrigem Gebüsch bedeckt.
„Er geht schnell und leise, er wagt kaum das Laub zu berühren.“
„Er ist’s.“
„Er kommt auf uns zu, – er kann uns nicht entgehen.“
„Wenn nicht jener Greis –“
„Still! Da ist er.“
Ein einzelner Mann war am Fuße der Anhöhe aus dem dichten Gebüsch in eine lichtere Stelle der Schlucht hervorgetreten.
Er konnte in der Mitte der dreißiger Jahre sein. Es war eine große, hohe und stolze Gestalt. Das schöne, männliche Gesicht war bleich; man sah ihm Anstrengungen und Entbehrungen an.
Gleichwohl hielt er sich noch kräftig, selbst stolz aufrecht und hatte noch mit jenem raschen und leichten Schritte gehen können.
„Er ist’s,“ hatten die Gensd’armen gesagt.
Er war der Fang, den sie machen wollten. Auch seine Kleidung verrieth den Flüchtling. Ein alter blauer Leinwandkittel bedeckte die hohe, stolze Gestalt; ein zerknickter Hut war tief in die Stirn gedrückt.
„Er kann uns nicht entgehen,“ hatten sie auch gesagt.
Sollte er ihnen wirklich nicht mehr entgehen können? Der Flüchtling, der aus dem Innern des weiten Kaiserreichs kam, der kaum noch hundert Schritte von der Grenze des Reichs entfernt war? Er war Flüchtling, eine Gefahr war ihm auf den Fersen. Es mußte eine dringende, hohe Gefahr sein. Jene Anstrengungen und Entbehrungen zeigten es, jene Verkleidung, die Spannung, der Eifer, mit dem er verfolgt wurde. So nahe, so im Angesichte seiner Befreiung, seiner Rettung, sollte er dennoch verloren sein?
Und er war ein Deutscher, man sah es den blauen Augen, den dunkelblonden Locken, dem ganzen Gepräge des feinen doch kräftigen Gesichts an. Und er kam aus dem grausamen, blutigen französischen Kaiserreiche, das Nichts mehr haßte und verfolgte, als deutsche Männer und deutschen Muth. Er war noch darin, in diesem Kaiserreiche; er wollte, er mußte ihm erst noch entrinnen. An der lichten Stelle, in die er hineingetreten, war er stehen geblieben, er sah sich nach allen Seiten in der Schlucht um und forschte nach allen Seiten. Es herrschte die völligste Stille rund um ihn her. Kein Blatt aus den Bäumen, kein Laub am Boden rührte sich. Keines Vogels Stimme belebte die einsame Waldschlucht. Er sah auch nichts. Die beiden Gensd’armen mit ihren Gewehren verbarg ihm der dicke Stamm der Eiche, hinter der sie standen. Zwischen ihm und jenem finstern Greise mit dem militairischen Aussehen befanden sich Hunderte von Bäumen.
Er blieb ferner stehen, um auszuruhen, um zu neuen Kräften sich zu erholen, für die letzten Schritte, die er einer Gefahr gegenüber noch zu machen hatte. Er nahm den alten, zerknitterten Hut ab, um sich den Schweiß von der Stirn zu trocken, und schlug mit einem dankbaren Blicke nach oben die Augen auf. Er glaubte sich frei, gerettet. Der Arme! Er hatte seine Stirn getrocknet und setzte den Hut wieder auf, sah sich noch einmal um und horchte noch einmal in die Schlucht hinein. Es blieb still, wie vorher. Er ging weiter und schritt in gerader Richtung vor. Er wollte die Schlucht durchschreiten, die ihn von der deutschen Grenze trennte. Noch achtzig bis hundert Schritte hatte er zurückzulegen. Dann war er im Vaterlande; der Freiheit, dem Leben zurückgegeben.
Die gerade Richtung seines Weges mußte ihn fast unmittelbar an der Eiche vorbeiführen, hinter welcher die beiden Gensd’armen verborgen standen. Sie winkten sich wieder mit den Augen zu, an welcher Seite des Baumes er vorüber gehen werde. Keine halbe Secunde lang hatten sie ihn aus den Augen gelassen. Sie verfolgten ferner jede seiner Bewegungen. Die Mündungen ihrer Karabiner waren auf ihn gerichtet. Aber sie waren nicht die Einzigen, die ihn gesehen hatten.
Auch der finstere, greise Spaziergänger hatte die Schritte vernommen, die sich von der Anhöhe naheten. Er hatte sich nach ihnen umgesehen und zwischen den verdeckenden Bäumen zuerst nur den blauen Kittel erblickt, dann die volle hohe Gestalt. Dann sah er wieder die in der höchsten Spannung lauernden Gensd’armen und ihre auf den Fremden gerichteten Gewehre.
Ein Flüchtling! Welche andere Ahnung, welcher andere Gedanke konnte in seinem Innern Platz finden? Dem Gedanken war ein eben so schneller Entschluß gefolgt. Er kehrte zurück in der Richtung, in welcher der Fremde stand, der jetzt schon wieder sich voran bewegte. Der Fremde hatte ihn noch nicht gesehen. Er hörte Schritte und hielt die seinigen an. Sein Blick flog mit der Schnelle des Blitzes durch die Schlucht. Er sah den Greis. Ein Entsetzen ergriff ihn. Der Greis war allein, ohne Waffen. Seine Miene, wie finster sie war, war keine feindliche, keine drohende. Der Flüchtling stand dennoch, wie von einem plötzlichen betäubenden Schlage getroffen. Er starrte den Greis wie eine Erscheinung des Schreckens, des Todes an. Aber nur einen Augenblick, dann war das Entsetzen gewichen. Er hatte den finstern Greis erkannt, man sah es ihm an, und die Erkennung erfüllte sein Herz mit der Angst. Den Mann selbst fürchtete er nicht. Er wandte sein Gesicht von ihm ab und ging weiter, aber seitwärts, um die Nähe des Erkannten zu vermeiden. Da durchfuhr auch den Greis plötzlich etwas Entsetzliches. Er hatte den Fremden genauer betrachtet und erkannte auch ihn. Er wollte fliehen, fliehen vor dem Flüchtling, der vor ihm entwich, um desto sicherer in die
verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 770. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_770.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)