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Seite:Die Gartenlaube (1857) 609.jpg

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

No. 45. 1857.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Felicitas.

Eine Erzählung vom Verfasser der „neuen deutschen Zeitbilder.“




I.
Das Todtenansagen.

Es war dunkler Abend geworden; der Herbstwind schlug den Regen an die Fenster des einsamen Fährhauses. Die Wellen des von dem Regen angeschwollenen Stromes drängten sich laut, prallten an die Ufer, peitschten die rauschenden Weiden, die von den Ufern her in das Wasser hinunterragten, und schüttelten dröhnend die Fährnachen, die in der Nähe des Fährhauses angekettet lagen, gegen einander.

Von dem Fährhause entfernte sich ein dunkler Zug. Es waren wenige Menschen, sieben oder acht Männer; sie trugen eine Todtenbahre. Es war ein Leichenzug. Er bewegte sich langsam und still an dem Ufer des Stromes hinunter. Die langsamen Schritte verhallten in dem Unwetter. Die dunklen Gestalten verschwanden in der Finsterniß des Abends.

Man hörte rings umher nur das Rauschen des Windes und des Wassers und der Weiden, die an dem Wasser standen, und das Geräusch der Kähne, die aneinander schlugen. Man sah nur den dunklen Abend; am Himmel keinen Stern, auf der Erde kein Licht, so weit das Auge reichte.

Auch in dem Fährhause war es dunkel und still. In der Stube waren nur drei Personen; ein alter Mann lag im Bette, er mußte krank sein. Ein kleines Kind lag auf einer Bank, gleichfalls gebettet; auch das Kind war krank. Ein erwachsenes Mädchen saß neben dem Kinde auf der Bank am Fenster.

Man konnte in der Finsterniß die Personen nicht näher unterscheiden. Es war in der Stube stiller, wie draußen. Man hörte den Wind und den Regen durch das Fenster.

Und weiter hörte man nichts?

Doch! Durch die Stille vernahm man ein leises Weinen.

Das Mädchen, das am Fenster saß, weinte. Das kranke Kind in den Kissen neben ihr suchte mit seinem Händchen ihre Hand.

„Warum weinst Du denn, Muhme Felicitas? Du hast mir ja gesagt, die Mutter komme zum lieben Gott und zu den Engeln.“

„Ja, mein Kind, sie ist beim lieben Gott und bei den Engeln.“

„Oben im Himmel?“ fragte das Kind.

„Ja, oben im Himmel. Fort von uns!“

Das Kind schien nachzudenken.

„Und da kommt sie wohl nicht wieder zu uns?“

„Nie, nie!“

Ein lauter, heftiger Thränenstrom stürzte aus den Augen des Mädchens. Das kranke Kind weinte jetzt still.

„Sie war so gut, die liebe Mutter!“

„So unendlich gut, so sanft, so ergeben,“ klagte das Mädchen.

„In all’ ihrem Unglücke, in allen ihren Leiden.“

Der alte Mann im Bette war unruhig geworden. Thränen hatten seine alten Augen wohl nicht mehr; aber seine Brust hatte noch tiefe, schwere, schmerzliche Seufzer, und seine Stimme hatte noch Klagen, wenn auch nur die tröstende Klage des Alters, das nur auf Eins hofft, aber auf dieses Eine so sehnlich, so gottvertrauend, auf den Himmel.

„Das unglückliche Kind hat viel gelitten,“ klagte der alte Mann. „Sie hatte nur saure und bittere Tage. Aber der Himmel hat sie ja erhört, und sie ist mit Vertrauen auf ihren Erlöser gestorben. Und nun, Felicitas,“ fuhr er nach einer Weile fort, und seine Stimme war nicht mehr klagend, „nun besorge, was zu besorgen ist. Zuerst das Wasser und dann das Ansagen.“

Wie nahe grenzen Glaube und Aberglaube an einander!

In der ganzen Gegend war es der Gebrauch der Leute, wenn eine Leiche aus dem Hause getragen war, ein Gefäß mit Wasser vor der Thür, durch welche man die Leiche getragen hatte, in’s Kreuz auszugießen. Es mußte geschehen, bevor nach dem Leichenzuge Jemand das Haus verlassen hatte. Geschah es nicht, so hatte der Todte keine Ruhe im Grabe.

In dem kleinen Dorfe bestand von uralten Zeiten her ein besonderer zweiter Gebrauch. Nachdem die Leiche aus dem Hause getragen und das Wasser vor der Thür in’s Kreuz ausgegossen war, mußte, noch ehe die Mitternacht den neuen Tag brachte, der Tod und die Beerdigung dem nächsten Nachbar im Dorfe angesagt werden, und dieser mußte sie weiter seinem nächstes Nachbar ansagen, und das so fort, bis es an den letzten Mann im Dorfe kam. Dieser letzte mußte zu dem nächsten Eichenbaum gehen, und es diesem mit lauter Stimme ansagen. Versäumte Einer etwas darin, so hatte er in demselben Jahre noch eine Leiche im Hause. –

Das Mädchen stand auf, ging in die Küche, füllte ein Gesäß mit Wasser und trat damit vor die Hausthür.

Still, ohne ein Wort zu sprechen, wie es geschehen mußte, goß sie das Wasser in’s Kreuz vor der Thüre aus. Dann blieb sie stehen, und blickte und horchte in die Gegend hinaus, nach welcher man die Todte fortgetragen hatte. Es war dunkel und still dort. Es war der Weg zum Kirchhofe!

Sie mußte bitterlich weinen, doch sie trocknete ihre Thränen und wollte in das Haus zurückkehren, das Wassergefäß wegsetzen und dann dem Nachbar die Todte ansagen.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 609. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_609.jpg&oldid=- (Version vom 17.10.2022)