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Seite:Die Gartenlaube (1857) 561.jpg

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

„Die Sache interessirt mich,“ sagte der Consul, indem er hastig aufstand. „In einigen Tagen sehen Sie mich wieder –“

„Dann werde ich Ihnen den Namen unserer unglücklichen Freundin nennen.“

Leberecht verließ das Pfarrhaus und eilte nach seiner Villa, die er, in Schweiß gebadet, erreichte, als der letzte Sonnenstrahl verschwunden war. Joseph empfing ihn und half ihm beim Auskleiden.

„Wann wollen der Herr Consul zur Nacht speisen?“

„Ich bin krank, Joseph!“

„Man sieht es Ihnen an, lieber Herr.“

„Nicht wahr, mein Gesicht ist bleich, mein Auge matt, meine Lippen beben vor Frost?“

„Ja, Herr Consul.“

„Bringe mich zu Bett!“

„Soll ich den Arzt holen?“

„Nein! Hu, wie mich friert!“

Leberecht schauderte wirklich wie ein Fieberkranker zusammen. Er legte sich zu Bett.

„Joseph, lies mir aus der Bibel vor.“

„Ja, Herr Consul!“

Der lange Diener setzte sich neben das Bett, befestigte eine Hornbrille auf seiner Nase und begann in einem feierlichen Tone zu lesen. Nach einer Viertelstunde verrieth ein lautes Schnarchen, daß der Kranke eingeschlafen war. Joseph erhob sich, legte die Bibel bei Seite und ging in ein freundliches Zimmer neben der Küche, um mit der Haushälterin ein gutes Abendessen zu genießen. Von dem kranken Herrn war keine Rede, die Domestiken wußten, daß er am nächsten Morgen wieder genesen sein würde. Und so kam es. Um neun Uhr erschien Alexander von Windheim zum Frühstück und um zehn Uhr ging er mit dem Consul auf die Jagd. Das Hauptthema ihres Gesprächs war die Verderbtheit der Welt.

(Fortsetzung folgt.)




Die Adelphi-Bogen in London.

Wer in London gewesen ist, wird sich unter den Hauptverkehrsstraßen gewiß des ewigen Wagengedonners und Menschengewühls erinnern, womit der breite, lange „Strand“ zwischen Westend und City an der Themse entlang fortwährend bersten zu wollen scheint. Diese Hauptverbindungsader zwischen Westend (speciell Westminster) und der City, der Strand, ist breit genug und London fabelhaft groß. Aber die beinahe drei Millionen Menschen haben durchaus nicht Raum darin. Zwischen den Tausenden und Zehntausenden von Häusern und Palästen gehen stets etwa 30,000 Menschen umher, die sich durchaus kein Dach und Fach über den Kopf, geschweige ein Bett verschaffen können. Auf den Straßen duldet sie des Nachts die Polizei auch nicht, wenn sie liegen bleiben, jedoch ohne sie zu arretiren. Wer unter polizeilichem Dache schlafen will, muß sich durch ein besonderes Verbrechen diesen Vorzug erkaufen. Die „Obdachlosen von Profession“ lieben aber das polizeiliche Obdach so wenig, daß sie durchaus nichts dafür geben, nicht einmal ein Verbrechen. Sie ziehen ihre Freiheit „unter der Erde“ aller polizeilichen Fürsorge vor. Sie begraben sich lieber lebendig, um frei zu bleiben, statt sich durch die Anstrengung eines Verbrechens Obdach zu verschaffen. Auf der Erde ist des Nachts kein Platz, keine Schlafstelle, kein Bett für sie. So verkriechen sie sich unter Brücken, Thorwege, Wagen, in offen liegende Gas- oder Wasserröhren, in unvollendete, zerfallene Häuser, oder wickeln sich in Straßenwinkeln auf den Steinen zu unförmlichen Haufen zusammen, um sich gegenseitig – Alt und Jung beiderlei Geschlechts – schlafend mit ihren Lumpen zu erwärmen. Die Polizei, welche dies nicht dulden darf, geht solchen Haufen Unglück gern aus dem Wege, da sie das schlafende Elend höchstens aufstören, ihm aber kein Obdach verschaffen kann. Die fetten Vorsteher der Armen- und Arbeitshäuser, für welche das Publicum fabelhafte Massen Armensteuer zahlt, halten ihre Thore gern geschlossen, und weisen oft die von Polizei und Magistrat unterstützten Ansprüche der Aermsten und Elendesten ab. Die Obdachlosen von Profession wohnen nirgends, und der Anspruch des letzten, tiefsten Elends auf’s Armenhaus braucht gesetzlich blos berücksichtigt zu werden, wenn ein jahrelanger Aufenthalt in dem betreffenden Bezirke nachgewiesen wird.

Dies erklärt die beispiellos massenhafte, tiefste Armuth und allnächtlich dreißigtausendfache Obdachlosigkeit in der reichsten, größten, unter der schwersten Armensteuer seufzenden Stadt der Welt.

Wo und wie alle übernachten, diese Dreißigtausend, wie sie durch Nacht und Nebel, Regen, Kälte und Schnee immer wieder hindurchkommen, und jeden Tag wieder die reichste Stadt der Welt mit den elendesten, schmutzigsten Lumpen bedecken, bleibt ein Wunder. Nur solche unterirdische Herbergen, wie die „Adelphi-Bogen“ am Strand, erklären es einigermaßen. Die kleinen Nebenstraßen im Süden des Strandes laufen ganz steil hinunter in die Themse. Nur ein Theil dieser südlichen Abläufer, Adelphi genannt, steht ganz eben und wohlhabend bis an die Themse auf ungeheuern Steingewölben, die vom Flusse und den Nebenstraßen her in mannichfaltigen Windungen unter den „Adelphi-Gebäuden“ hinlaufen. Dies sind die berüchtigten „Adelphi-Bogen“ („Adelphi-Arches“), welche nun schon seit Monaten in den englischen Zeitungen eine hervorragende, locale Rolle spielen. Man hat sie erst neuerdings entdeckt, und London ist voller Erstaunen darüber, wie das so oft vorkommt. Jahrhunderte lang mitten in der großbritannischen Hauptstadt schreiende Uebel bestehen ruhig mitten unter Crösus’ und höchster Civilisation fort, ohne daß ein „respektabler Mensch“ jemals etwas davon hört, bis die Presse sich einmal plötzlich eines solchen, Jahrhunderte lang schreienden Uebels bemächtigt und es zum Tagesgespräch macht. Das dauert eine Zeit lang, bis ein anderes schreiendes Uebel Mode wird, und das schreiende überschreit.

Das unterirdische Leben und Streben in den Adelphi-Bogen wurde zunächst durch den Geruch entdeckt. Die respektablen Bewohner darüber klagten der Polizei, daß es von unten auf immer unerträglich röche. Zugleich klagte man, daß es Nachts da unten nicht geheuer sei, und diabolischer Höllenlärm zuweilen heraufdringe. Am Aergsten sei’s Sonntags während des Gottesdienstes, den die Polizei von Außen schützen muß, so daß sie während der Zeit alle die Tausende von Greisen, Kindern, Mädchen und Jungen, welche allerhand Eßwaaren und Leckerbissen durch alle Straßen mörderlich ausschreien, vertreibt. Viele flüchten sich dann unter die Adelphi-Bogen, in welche die Heiligkeit des Sonntags nicht hinabdringt, so daß dort nun während des Gottesdienstes immer der originellste, anarchischste Sonntags-Wochenmarkt entsteht und skandalös in die öde, düstere Langeweile des obern englischen Sonntags thatsächlich heraufstinkt.

Ich machte zwei Höllenfahrten in diese Unterwelt, eine bei Tage und die andere bei Nacht, um die unterste Schicht, auf welcher sich der verworrene, feudal verrottete, stolze, von Allen, die sie nicht kennen, bewunderte Bau der englischen Gesellschaft erhebt, von Angesicht zu Angesicht kennen zu lernen.

Ich stieg hinunter aus dem Getöse und dem Lädenglanze des Strandes in eine Nebenstraße, und bog dann (mit zwei tapferen Freunden) rechts ab in lange, dunkele, überwölbte Passagen mit finster gähnenden Nebenpassagen und feuchten, dumpfen Kellergewölben. Oben war trockne Hitze. Hier hauchte uns auf schmierig-schlüpfrigem Wege eine kalte, feuchte, stinkende Verwesung entgegen. Es sind die Triumphbogen des tiefsten Elends, die Ehrenpforten materiellen und moralischen Auswurfes aus der reichsten und größten Stadt der Welt. Vergebens gähnen die Kloakenthore von der Themse unten herauf, um den hier aufgehäuften Schmutz zu verschlingen. Der Auswurf hat hier seine Residenz, sein Schloß: hier darf nicht gereinigt werden. Hier darf nie ein Sonnenstrahl sich sehen lassen, weder einer vom Himmel, noch ein menschlicher aus einem edeln Herzen. Das Edelste und Schönste erstarrt hier, wird hier zusammengedrückt oder als sinnloses Entsetzen davon gejagt. Wäre ich doch auch sofort davon geflohen, wenn meine tapfern Freunde mir nicht zugeredet hätten. Es galt, diese Welt kennen zu lernen. Also immer weiter, immer tiefer! Unsere Worte klangen uns selbst fremd, wie dunkel verhallende, uns selbst unverständliche Stimmen böser Dämonen, die bald aus schwarzen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 561. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_561.jpg&oldid=- (Version vom 20.10.2022)