verschiedene: Die Gartenlaube (1857) | |
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Die diplomatischen Alliancen, Bündnisse und Verträge, sonst das Oel, mit welchem sich die Weisheitslampen der Menschheit hauptsächlich nährten, sie, die jetzt noch die Centralsonne verschiedener Staatssupernumerar-Hämorrhoidarien bilden, müssen immer mehr geheimen Verschwörungen und Bündnissen weichen, welche mitten unter polizeilicher Aufsicht geschlossen und der Welt geöffnet werden, um sie immer weiter und breiter zu erleuchten, zu reformiren und gar zu revolutioniren, ohne daß der conservativste gestrenge Herr etwas dagegen machen kann. Hat er doch schon genug zu thun, um einigermaßen mit- und nachzukommen und die sich stets erneuernde Welt zu begreifen, so daß er höchstens an’s Eingreifen denkt, wenn es schon zu spät ist und er sich entweder lächerlich macht oder, um diesen gefürchtetsten Feind nicht zu reizen, die Verschwornen lieber gehen läßt. Wir meinen die geheimen Bündnisse der Manufactur und Fabrikation mit der Wissenschaft, besonders der jungen, übermüthigen Chemie, welche in ihrer Fuchssemester-Keckheit hier und da bereits der ganzen bestehenden Welt den Krieg erklärt hat: „Was nicht ich ist, ist gar nichts!“
Wir gönnen ihr diesen Uebermuth des Flegeljahre-Kraftgefühls und denken, daß er sich mit der Zeit selbst bescheiden und beschränken lerne. Sie hat vor der Hand Ursache etwas übermüthig zu sein. Sie ist jung und alle Welt liebt sie oder hat, wenn keine Liebe, grausamen Respect vor ihr. Ihre Alliancen mit der producirenden und fabricirenden Menschheit tragen großartige, neue Früchte, deren sich immer mehrende neue Namen selbst den Gelehrten oft in Verlegenheit setzen. Für Seife bietet man uns Glycerin, für Wachslichte Paraffin und statt der Soda, die jede Küchenmagd kennt, wird man bald krystallisirtes Calcium-Hydrochlorat beim Kaufmanne fordern müssen. Welch’ ein Verlegenheitslabyrinth von neuen chemischen Elementen und organischen oder unorganischen chemisch Verbündeten in der wissenschaftlichen und materiellen Welt! Die alten Römer der Republik hielten sich Sclaven blos für den Zweck, alle Namen und Personen der Mitbürger kennen zu lernen und sie ihren Herrn zuzurufen, damit diese mit dem Scheine, alle Welt zu kennen und ihr die Hände zu schütteln, sich populär halten könnten. Im Mittelalter hielten sich große Geschäftsleute besondere Denker. Etwas Aehnliches wird auch heute nöthig. Ein großes, neues deutsches Geschäft in London, begründet auf die von einem Deutschen erfundene, trockene, plastische Behandlung der reinen Kohle für chemische Schmelztiegel, Filtrir-, Ventilations- und Kühlapparate u. s. w., worüber wir vielleicht bald Näheres mittheilen, sucht eben einen solchen Denker von Profession. Jeder gebildete Mensch, nicht Chemiker von Fach, kommt heutzutage öfter in den Fall, sich einen Sclaven zu wünschen, der ihm fremde, neue Namen, noch nicht im Conversations-Lexicon, aus einem Souffleurkasten zurufe.
Wer kann aus diesem stets brauenden Hydrosuperoxydulcyankaliumbromchloroidstickstoffschwefelsalpeter und gurkensauerchemischen Labyrinthodon-Laboratorium ohne Fachgelehrsamkeit und soufflirenden Weisheitssclaven noch klug werden?
Diese und ähnliche Gedanken stiegen neulich aus meinen wieder hervorgesuchten amerikanischen Gummi-Galoschen auf, nachdem mir ein Freund, chemischer Reisender in England für eine deutsche Fabrik, den Kopf mit seinen Studien und Schilderungen der Gummi-Galoschenfabrik in Edinburg warm gemacht hatte. Letztere gefiel mir so, daß ich ihn bat, mir dieselbe schriftlich zu schildern. Dies that er auch sehr ausführlich und gelehrt, so daß ich hiermit unternehme, sein Manuscript in populärerer Form abzukürzen.
Die Einleitung führt den Trost aus, daß die sich und die Welt stets bereichernde, complicirte Chemie sich technisch zugleich ungemein vereinfache. Mit einer Spirituslampe, etwas Glas, Kork und Gummi könne man der Natur mehr Geheimnisse abnöthigen, als der große Faustus mit seinen Beschwörungsformeln aus Nostradamus zwischen Büchern und Papier in dem „verfluchten, dumpfen Mauerloche, wo selbst das liebe Himmelslicht trüb durch gemalte Scheiben bricht.“
Und nun zu unsern Gummi-Galoschen, einer der großartigsten und zugleich simpelsten Alliance zwischen Chemie und Fabrikation, eine amerikanische Capitalisten-Compagnie kam unlängst herüber nach England und suchte sich in dem gelehrten Edinburg ein altes, verfallenes Industrieschloß (erbaut für Seidenmanufactur, die nicht zur Ausführung kam) zur Etablirung und Europäisirung ihrer Gummi-Galoschenfabrikation aus. Sie ist die erste und größte Fabrik ihrer Art in Europa und zugleich eine solche Curiosität, daß sie Jeder gern näher kennen lernen mag.
Was das Material selbst betrifft, das Gummi elasticum, so sah man es zuerst in Europa um die Mitte des vorigen Jahrhunderts und dachte, es sei zu nichts Besonderem gut, als zum Auswischen von Bleistiftlinien. Es ist der geronnene Saft gewisser tropischer Bäume, besonders der Siphonia elastica in den brasilianischen Wäldern, deren Bewohner es „Caoutschouc“ nennen. Die physischen Eigenschaften desselben sind ganz einzig in der vegetabilischen Welt. Die elastischste Substanz in der Natur, unlöslich in Wasser oder in Alcohol oder in irgend einer mineralischen Säure, nur leicht löslich in einigen Aetherarten und in Naphtha, sich wieder in einen Körper fügend, wenn zerschnittene Stücke warm gegen einander gedrückt werden – welch’ ganz besonderer Saft der Natur! Welch’ ein Schatz für den analytischen Chemiker und für unsere Füße in Schnee und Schmutz!
Die mancherlei industriellen Verwendungen des Gummis für wasserdichte Bekleidung, die berühmten Makintoshes, die in der Hitze sich auf den Leib leimten und schrecklich rochen und in der Kälte knochenhart wurden, die lächerlichen Gummihosen u. s. w. kamen bald in Verfall, um einer neuen Gummi-Elasticum-Periode Bahn zu brechen.
Charles Goodyear, auf Rhode Island in Nordamerika, kam als Schiffsbauer auf den Gedanken, Bootskelette mit Gummi zu überziehen und sie als Rettungswerkzeuge bei Schiffbrüchen zu versuchen. Der Erfolg war glänzend, doch hielten die Boote keine trockene Hitze aus, eben so wenig wie die Makintoshes. Um diese vegetabilische Schwäche des Gummi’s zu curiren, machte Goodyear Jahre lang chemische Versuche, welche zu der glänzenden Entdeckung der sogenannten Vulcanisirung führten. Er fand nämlich heraus, daß Gummi, in hoher Temperatur mit bestimmten Theilen von Schwefel und Bleioxyd gemischt, seine große vegetabilische Schwäche verlor und, ohne etwas von seiner Elasticität und Fügsamkeit einzubüßen, jedem Temperaturwechsel trotzte. Diese Entdeckung war ein Ereigniß. Vulcanisirter Gummi wurde sofort die Wuth des Tages. Man machte alles Mögliche davon: Wagenfedern, Eisenbahnpuffers, Maschinenbänder, Bruchbänder, Luftkissen, wasserdichte Kleider, chirurgische Bänder und Bandagen und Instrumente aller Art, ditto Gummi-Galoschen.
Die Fabrikation der letzteren trug über alle andern Verwendungen den Sieg davon. Die Fabriken in Connecticut, Rhode Island, New-Jersey, Massachusetts u. s. w. beschäftigen beinahe 6000 Menschen und liefern jährlich fünf Millionen Paar Gummi-Galoschen.
Die „nordenglische Gummi-Compagnie“ in Edinburg ist der große europäische Absenker von dieser echt amerikanischen Industrie. Die Herren H. H. Morris und S. T. Parmelee (Ersterer nach einer dreißigjährigen Dienstzeit im Gummigeschäfte) kamen vor zwei Jahren herüber, etablirten sich in Edinburg, wo die Arbeit billiger, als irgendwo in England, und der Continent über Leith leicht erreichbar erschien, und fingen im Mai 1856 mit vier Personen, drei Mädchen und einem Irländer, ihr Gummi-Galoschen-Geschäft an. Jetzt fabriciren circa 700 Personen, größtentheils Mädchen, schon 4000 Paar glänzende, geschmackvoll geformte Gummischuhe jeden Tag.
Das muß man sehen, um’s zu glauben. Wir treten also ein in das große, quadratische Industrieschloß und zwar an der Nordseite, wo fünf Stockwerke übereinander große Säle sich dehnen und an langen, langen Tafeln und Tischen tausend niedliche Hände ganz weiß in dem schwarzen Gummi herumfingern und die prächtigsten Schuhe gleichsam aus dem Aermel schütteln.
Auf dem untersten Flure müssen wir uns zunächst einen Weg durch große Haufen von Gummikuchen und „Negerköpfen“ bahnen. Erstere bestehen aus platten Stücken, letztere aus sogenannten Flaschen, etwa von der Größe eines Kopfes, dessen Schwärze und unschöne
verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 534. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_534.jpg&oldid=- (Version vom 12.10.2022)