verschiedene: Die Gartenlaube (1857) | |
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weil er von der strengen Mannszucht sich einen Erfolg versprach, aber auch hier verfiel sein Sohn in seine früheren Fehler.
Um einer Dirne ein Geschenk zu machen, entwendete er einem Cameraden eine Uhr, und wurde deshalb hart bestraft und, was weit schlimmer war, in die zweite Classe der Ehrlosen gestoßen. Dies schien einen bedeutenden Eindruck auf ihn gemacht zuhaben; er ging in sich und diente fortan mit solcher Auszeichnung, daß er wieder zurückversetzt und sogar um einen Grad befördert werden sollte. Während des Feldzuges in Schleswig-Holstein hatte er bei vielen Gelegenheiten einen seltenen Muth und ein entschieden militairisches Talent bewiesen. Er wäre vielleicht, da es ihm auch nicht an der nöthigen Bildung fehlte, ein brauchbarer Soldat, sogar unter andern Verhältnissen ein Held geworden. Der allzu schnelle Frieden vereitelte diese Aussichten, und ein unglücklicher Streit, den er in der Trunkenheit mit einem Vorgesetzten hatte, brachte eine neue Bestrafung zu Wege. Seitdem waren wieder alle seine guten Vorsätze verschwunden; er überließ sich von Neuem den früheren Ausschweifungen und zwar so arg, daß er mit Schimpf von seinem Regimente fortgejagt werden mußte.
In dieser Lage getraute er sich nicht dem erzürnten Vater unter die Augen zu treten; er irrte längere Zeit herum, bis er bei einem Förster im Walde als Jägerbursche ein Unterkommen fand. Das Leben sagte ihm zu; die Bewegung im Freien, die Lust an der Jagd, das Auflauern der Wilddiebe entsprach vollkommen seiner Neigung zu einem mehr herumschweifenden, thätigen Leben. Auch hier legte er vielfache Proben seiner natürlichen Tapferkeit und Verwegenheit ab. Alles wäre gut gegangen, und der junge Mann vielleicht noch ein tüchtiger Jäger geworden, wenn er nicht auch hier bei seinem Besuche in der benachbarten Stadt in schlechte Gesellschaft gerathen wäre. Um die sich mehrenden Ausgaben zu bestreiten, ließ er sich verleiten, einem Wildhändler heimlich das von ihm geschossene Wild zu verkaufen, und somit seinen Brodherrn zu betrügen. Sein Vergehen wurde entdeckt, und er den Gerichten übergeben. Ein sechsmonatlicher Aufenthalt im Gefängnisse war der Wendepunkt seines Schicksals; er hatte dort mehrere Verbrecher von Profession kennen gelernt, deren gelehriger Schüler er jetzt wurde. Sie versahen ihn mit den nöthigen Anweisungen, ertheilten ihm Unterricht und weiheten ihn so vollständig in die Mysterien ihres schändlichen Gewerbes ein, daß der Lehrling bald zum Meister vorrückte.
Sein Muth, seine persönliche Tapferkeit, Bildung und Schlauheit gaben ihm bald eine hervorragende Stellung in der Gaunerwelt; hier fand er Gelegenheit, seine Talente und Eigenschaften zu verwenden, die ihm wahrscheinlich in einem Kriege eine ehrenwerthe und glänzende Stellung verschafft hätten. Auch fand er unter seinen Genossen die Achtung und Anerkennung, welche ihm die Gesellschaft versagen mußte. Bald leitete er die kühnsten Diebstähle, Einbrüche und Raubanfälle, welche die Aufmerksamkeit der Behörden im höchsten Grade erregten. Bei einem Ueberfall einer einsam gelegenen Mühle, deren Bewohner sich zur Wehre setzten, erschoß er mit eigener Hand den Eigenthümer. Ein Preis war auf die Entdeckung des Thäters gesetzt, und mit Hülfe eines bereits bestraften Verbrechers, der jetzt im Dienste der Polizei stand, gelang es, den Mörder zu ergreifen. Nur ein halbes Jahr hatte die ganze Laufbahn gedauert, die jetzt auf dem Schaffot ihr Ende finden sollte. Aus den Acten ging noch eine vollkommen erwiesene, merkwürdige Thatsache hervor, daß der Verurtheilte wenige Tage nach dem von ihm vollbrachten Morde mit eigener Lebensgefahr ein Kind vor dem Ertrinken gerettet hatte. Welche Widersprüche in einer Menschenbrust! Sein Vertheidiger hatte diesen Umstand in einem eingereichten Gnadengesuche geltend gemacht; nichts desto weniger wurde dasselbe zurückgewiesen und die Hinrichtung anempfohlen. –
Ich hatte so eben die Untersuchung beendet, und stand im Begriffe, den Unglücklichen zu verlassen, als eine schluchzende Frau in anständig bürgerlicher Kleidung in die Zelle trat.
„Mutter!“ schrie der Gefangene auf, und all seine mühsam errungene Fassung brach vor diesem Anblick zusammen.
Sie sank auf den Sessel hin, welchen ihr mitleidig einer der Wärter hinstellte, und bedeckte ihr schmerzenvolles Gesicht mit den abgemagerten Händen.
Es herrschte ein furchtbares Schweigen in der Zelle, eine wahre Todtenstille. Leise schlich ich mich fort, um nicht Zeuge der nun folgenden, erschütternden Scene zu sein. Ich sagte dem Verurtheilten nicht ein Lebewohl, da ich doch am Morgen des nächsten Tages ihn zum Schaffot begleiten mußte. So blieb er allein mit seiner Mutter; der Vater war, ihm fluchend, vor einigen Monaten gestorben; aber die Mutterliebe brachte Versöhnung, Ruhe und Frieden in dies elende, von Todesangst gequälte Herz. Wie ich später hörte, verlangte der Delinquent, nachdem ihn die Mutter verlassen, den Zuspruch des Geistlichen, welchen er bisher anzunehmen hartnäckig verweigert hatte. Er wurde dann ruhiger und schlief sogar noch einige Stunden, oder schien wenigstens zu schlafen. Welche Träume mögen einem solchen Schlummer zu Theil geworden sein, welche Gedanken ein solches Erwachen begleitet haben! – Als der Beamte ihn abzuholen kam, fand er ihn bereits angekleidet; mit langsamen, aber festen Schritten betrat er den Hof und sah das verhängnißvolle Gerüst, wo der Scharfrichter mit seinen Gehülfen ihn erwartete. Gefaßt hörte er die nochmalige Verlesung des Todesurtheils aus dem Munde seines Richters. Mit bewegter Stimme nahm er von diesem und von den übrigen Beamten Abschied. Seinem Wärter trug er, wie ich deutlich hören konnte, noch einen Gruß an seine abwesende Mutter auf. Jetzt bestieg er das Schaffot, seine Lippen schienen sich noch einmal zu bewegen, wie zum letzten Gebet; dann kniete er nieder, die Knechte befestigten das Haupt auf dem Block. Der erste Strahl der aufgehenden Sonne spiegelte sich in dem funkelnden Beil, das mit einem dumpfen Hiebe den Lebensfaden zerschnitt. Ich aber entfernte mich erschüttert und doch nicht von der Zweckmäßigkeit der Todesstrafe überzeugt.
Aus Indien, dem Wunder- und Zauberlande der Natur, Religion und Poesie, des ältesten Wissens (Veda), der gewaltigsten, süßesten urgermanischen Dichtungen mit dem schlanken, braunen, jungfräulichen Urbilde aller weiblichen Liebe, Sakontala, an deren Spitze, aus Indien zuckte neulich mit telegraphischem Blitze die Schreckenskunde von tausendfachem Mord und tausendfachem Brand durch England und Europa. Die braunen, mageren, ausgedörrten Eingebornen, seit Jahrtausenden in Brahma und Buddha Selbstvernichtung mit Leib und Seele als ihr höchstes Ziel in künstlicher Verkommenheit und Versenkung suchend, träumend und vegetirend wie ihre höchsten Gottheiten, die auf blauen Lotosblumen schlafen, voller Milde und Barmherzigkeit und erhabenster Selbstverleugnung in ihrer buddhistischen Moral, welche die höchsten vom Christenthume aufgestellten Pflichten der Feindesliebe und Kreuzigung aller Selbstsucht tausendfach überbietet, dieselben Eingebornen haben sich gegen die seit einem Jahrhundert civilisirenden und christianisirenden Engländer in Tigerwuth und Elephantenraserei erhoben und alles europäische Leben, das sie finden, mit Weib und Kind schonungslos und erbarmungslos gemordet und alle europäischen Bauten und Häuser, die sie erreichen konnten, in Flammen aufgehen lassen. Die alte Hauptstadt der indischen Hauptvölker mit ihrem Großmogul, Delhi, war nach den letzten Nachrichten in den Händen der Rebellen und in den umliegenden Städten brach dieselbe Wuth gegen alles Englische aus. Was nicht durch die Flucht entkam, wurde wüthend gemordet, Alt und Jung, Weib und Kind.
Wie müssen die Engländer dieses Jahrhundert lang civilisirt und christianisirt haben, um eine seit Jahrtausenden durch Despotismus und Religion geistig und körperlich ausgemergelte, zum schwachen, marklosen, heißen Sumpfpflanzenleben herabgedrückte Bevölkerung zu dieser bestialischen Tigermordwuth zu stählen und zuzuspitzen!
Wie ist’s nur so gekommen und was ist denn eigentlich geschehen? Suchen wir in gedrängtester Kürze etwas Antwort darauf zu geben.
verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 416. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_416.jpg&oldid=- (Version vom 10.9.2022)