verschiedene: Die Gartenlaube (1857) | |
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Blut haben? So fragt sich nicht nur sofort der Arzt in seinem Innern, sondern denkt auch gleichzeitig an alle nur möglichen Ursachen der Blutarmuth. Sicherlich hat jenes in Kattun gekleidete Mädchen zu wenig gute Nahrung und zu viel Arbeit mit Sorge, während die andere, im seidenen Kleide, vielleicht der Liebe Gram gebleicht hat. Doch nicht zu voreilig; stellen wir unser Examen erst an.
„Ihre hauptsächlichsten Beschwerden, meine lieben Fräuleins?“
„Magenkrampf und Blutandrang nach dem Kopfe, neben großer Mattigkeit. Eben jetzt wurde ich von Schwäche und Schwindel befallen und meine Freundin klagt über Flimmern vor den Augen mit Ohrensausen. Ja das Blut macht uns sehr viel zu schaffen, trotzdem daß wir von Zeit zu Zeit schröpfen und schon einige Male zur Ader gelassen haben, auch öfters an Nasenbluten leiden.“
„Bitte, kommen Sie doch einmal hier vor den Spiegel und zeigen Sie mir das Blut, was Ihnen so viele Beschwerden macht. Sie finden keines! und da auch im Innern Ihres Köpfchens nur wenig anzutreffen sein würde, darum lassen Sie sich vorläufig gesagt sein, daß zu wenig Blut im Gehirne fast ganz dieselben Kopf- und Nervenerscheinungen (wie Kopfschmerz, bisweilen blos auf dem Scheitel, Migräne d. i. ein hartnäckiger halbseitiger Kopfschmerz, Schwindel, Neigung zu Ohnmachten, Sinnestäuschungen, Schwarzwerden und Flimmern vor den Augen, sogar Schwäche der Sehkraft, Ohrensausen, eigenthümliche Geschmäcke, Nervenschmerzen, und Krämpfe aller Art) erzeugen kann, wie zu viel Blut darin, und daß Sie, als Blutarme, durch was immer für welche Blutverluste nur noch kränker werden müssen. Ebenso wird es Ihnen aber auch in Folge von Anstrengungen und stärkeren Erregungen (besonders durch kaltes Baden) ergehen, weil hierdurch ebenfalls, nur mittelbar, Blut (durch Verbrauch) verloren geht. Sicherlich bekommt Ihnen das Tanzen schlecht, auch werden Sie bei Ihrem weichen, schlaffen und welken Fleische (Muskeln), nicht lange dabei aushalten können, ja vielleicht sogar heftige (Muskel-)Schmerzen (rheumatische von ihrer Frau Mutter genannt) danach bekommen.
Doch um hübsch Ordnung in unserm Examen halten zu können, bitte ich Sie, mir nun auf meine Fragen zu antworten. Waren Sie vor Beginn Ihres Leidens stärker (dicker) und sahen munterer aus?“
„Allerdings! viel kräftiger, von weit festerem Fleische und von gesünderer Gesichtsfarbe.“
„Wie ist die Veränderung Ihres Körpers eingetreten, schnell oder langsam?“
„Bei meiner arbeitsamen Freundin ganz allmählich, bei mir ziemlich schnell, bald nach dem Magenkrampfe.“
„Was für Beschwerden nennen Sie Magenkrampf?“
„Die heftigen, gewöhnlich zusammenziehenden Schmerzen in der Herzgrube, die vorzüglich einige Stunden nach dem Essen (zumal fester Speisen) und nach dem Trinken kalten Wassers eintreten, bisweilen sogar mit Ausbrechen des Genossenen, ja selbst einige Male mit Blutbrechen verbunden waren.“
„Ist dies bei dem andern Fräulein auch so?“
„Nicht ganz! Die Schmerzen treten öfter bei nüchternem als bei vollem Magen ein, auch ist Brechen selten und noch niemals Blut weggebrochen worden.“
„Im Uebrigen sind Ihre Klagen dieselben?“
„Ja! Nämlich: fortwährende Kopfschmerzen, häufiges und starkes Herzklopfen, Kurzathmigkeit fast bei jeder Bewegung, Verdauungsstörungen, Gemüthsverstimmung, große Mattigkeit und öfteres Frösteln.“
Welche Veränderungen finden sich denn nun aber im Innern unserer Patientinnen? Denn dies zu wissen, ist für einen wirklich wissenschaftlich gebildeten und gewissenhaften Arzt zur Beurtheilung des Leidens ganz unentbehrlich, kann aber nur mit Hülfe der physikalischen Untersuchung (durch Befühlen, Beklopfen, Behorchen u. s. w.) ermöglicht werden. Wäre ich freilich Homöopath, da hätte ich ohne Weiteres schon längst zu meiner Apotheke und zu Pulsatilla, Calcarea oder Ferrum gegriffen, denn ein Homöopath quält sich nicht wie unser Einer mit der wissenschaftlichen Durchschauung einer Krankheit ab. Darum eben kann ja aber auch jede alte Frau, ein verdorbener Student der Medicin, ein Postsecretair (wie z. B. Herr Arthur Lutze in Köthen, s. Gartenl. 1856, Nr. 12.), ein Oekonom und Roßhändler, kurz jeder Laie, der einen homöopathischen Haus- und Familienarzt zu lesen im Stande ist, als homöopathischer Heilkünstler wirthschaften. In unserem Falle könnte freilich manchem Hahnemannianer mehr der Magenkrampf als die Bleichsucht (Blutarmuth) in die Nase stechen und dann würde ihm Qual aus der Wahl von Nux, Bryonia, Chamomilla, Coculus, Phosphor, Bismuth, Carbo, Belladonna, Pulsatilla, China, Arsen, Chelidonium, Baryt oder Ignatia. Doch weg mit solcher Laienblödsinnsmedicin. – Die physikalische Untersuchung ließ bei unsern Fräuleins trotz Kurzathmigkeit und Herzklopfens ebenso die Lungen wie das Herz als ganz gesund erkennen; das ununterbrochene summende Geräusch in den Halsblutadern, sowie das mit dem Pulse zusammenfallende Blasen im Herzen und in den großen Pulsadern rührten nur von der Blutarmuth her. Auffallend war die Schmerzhaftigkeit beim Druck in die Magengrube, die aber am meisten die Patientin empfand, welche früher einige Male Blut gebrochen hatte.
Hiernach sind die Krankheitserschenungen bei unsern beiden Patientinnen, obschon ihre Beschwerden fast ganz dieselben zu sein scheinen, doch in Etwas verschieden. Denn während bei der Einen der sogen. Magenkrampf vor dem ziemlich schnell erfolgten Magerer- und Bleichwerden zum Vorschein kam, vorzugsweise nach dem Essen und Kalttrinken eintritt, mit Brechen (auch von Blut) verbunden ist und durch Druck erregt oder gesteigert wird, fand sich bei der Andern der Magenschmerz erst nach der allmählich sich steigernden Bleichsucht ein, zeigt sich häufiger bei nüchternem Magen, ruft seltener Brechen oder Brechneigung hervor und ist gegen Druck unempfindlicher. – Die Lebensweise Beider ist eine durchweg verschiedene. Die Arme muß in die Nacht hinein sitzen und arbeiten, ihre Nahrung besteht hauptsächlich aus Kartoffeln, Brod und Kaffee, und von verzehrenden Sorgen wird sie nie ganz frei; die Sorgenfreie schläft dagegen lange und gut, und könnte auch, wenn es der Magenkrampf erlaubte, viel und gut essen. – Unter solchen Umständen läßt sich mit ziemlicher Sicherheit behaupten: das arme Fräulein ist in Folge ihrer Armuth, die andere durch ein die Verdauung störendes Magenleiden krank und blutarm geworden und erstere könnte sehr leicht durch passende, besonders thierische Nahrung (Milch, Eier, Fleisch), gehörigen Schlaf und frische freie Luft zur vollen Gesundheit gelangen (s. Gartenl. 1853, Nr. 49.), während bei der letzteren zunächst das Magenleiden (das sogen. runde Magengeschwür als die häufigste Ursache des Magenkrampfes) durch eine richtige Magendiät (s. Gartenl. 1853, Nr. 42 und 1855, Nr. 31), also bei warmer, flüssiger und reizloser, aber trotzdem nahrhafter Kost (besonders gute Fleischbrühe und weiches Ei), geheilt wird (das Geschwür vernarbt). In beiden Fällen ist Arznei (selbst das Eisen) ganz unnütz, ein richtiges diätetisches Verhalten dagegen ganz unentbehrlich zur Heilung.
Denke sich der Leser nun einmal in die Stelle des Arztes; ist es für diesen nicht traurig, wenn er jenem guten, armen, arbeitsamen Mädchen gerade Das zu ihrer Wiederherstellung als durchaus nöthig und unersetzlich anrathen muß, was sich zu verschaffen diese nicht im Stande ist! nämlich: weniger Sorge, Schlaf und gute Kost. Deutlich zeigt sich ihm die trübe Zukunft der Patientin; sie fällt endlich als Opfer ihrer Verhältnisse. – Hätte ich Vermögen, ich machte eine Milch-Stiftung für arme Blutarme oder Bleichsüchtige, denn Milch über Alles! nieder mit der Kartoffel!
Die große Hauptinsel England sieht mit erhabenem Felsentrotz auf die Nordsee und die flachen Gestade Hollands, Belgiens und Frankreichs herab. Besonders trotzig und seit Jahrhunderten und Jahrtausenden den Schiffern und Fischern gefährlich und tödtlich zieht sich der Gebirgs- und Felsenrand Englands mit perpendiculär aufsteigenden Wunder-Blöcken und Schluchten von Flamborough Head bis Bempton an der Küste Yorkshire’s. Diese Festungen gegen das Meer mit ihren unzähligen Riffen, Zacken, Zinnen, Kanten und Kegeln, cyclopischen Mauern und neptunisch-vulcanischen, krystallisirten Ausbrüchen sind keines Menschen Freund, aber doch
verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 303. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_303.jpg&oldid=- (Version vom 31.5.2022)