verschiedene: Die Gartenlaube (1857) | |
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Für sieben Schillinge und sechs Pence, also für 21/2 Thaler, hin und zurück. Vierhundert englische Meilen Eisenbahn gefahren für zwei und einen halben Thaler! Das war mir doch, nach Allem, was ich gesehen, das Merkwürdigste, als ich mich zu Hause in London erholt und hingesetzt hatte, um niederzuschreiben, was mir aus der frischen Erinnerung an die mitgemachte „Eröffnungsfeierlichkeit der Kunstschatz-Ausstellung in Manchester“ eben als annehmbar in die Feder kommt. Damit aber diese Merkwürdigkeit kein Unglück in kleinen Geldbeuteln anrichte, füge ich sofort hinzu, daß die Fahrt das Wenigste war. Hätte ich nicht bei einem Freunde logirt und leibliche Nahrung zu mir genommen, wäre ich kaum mit Casse und Credit aus- und wieder nach Hause gekommen. Andere, die auf die Gastfreundschaft der Manchester Hotels angewiesen waren, erzählten mir dämonische Geschichten von Rechnungen für Dinge, die sie gar nicht gesehen, geschweige genossen hatten. Doch genug davon, ohne anzufangen. Die nächste Merkwürdigkeit, die mir in die Feder kommt, ist das Citat einer Dame in einem silbergrauen, rothbesetzten Mäntelchen und mit schweren, brauen, vollblut-englischen Locken. Es wurde natürlich unterwegs und mitten in der Ausstellung, wie überall, viel Maculatur gesprochen, unter Anderem auch über den pädagogischen und moralischen Einfluß der Kunst auf die Natur und Denkungsweise der Menschen. Ein Gentleman in Steifleinen leugnete diesen Einfluß ganz und gar. „Ganz im Gegentheil,“ rief die Dame zwischen ihren braunen Locken heraus; „ich finde in dieser Wirkung der Kunst deren einzige Macht. Bulwer Lytton sagt irgendwo, Niemand könne des großen Thiermalers Landseer Hirsche, Hunde und Pferde studiren, und hernach einen Hund mißhandeln.“
Das ist eine bekannte, schon oft ausgesprochene Wahrheit, aber sie gefiel mir in dieser Form aus einem schönen Munde als Trumpf gegen einen renommirenden Gottesleugner der Idealität und des Schönen ganz besonders. Nun zur Sache.
Ich war früh auf am berühmten fünften Maitag in Manchester, wo der Rauch nie etwas Maigrünes duldet. Aber ich liebte es heute. Dieser Rauch und diese Baumwolle hatten binnen drei Wochen ohne Anregung von Oben oder Unten, aus sich selbst, aus Privatmitteln 75,000 Pfund Sterling zur Errichtung des Kunsttempels gegeben, wie im benachbarten Liverpool ein einziger Kaufmann eine große Bibliothek u. s. w., frei für alles Volk baut. Das ist nobel, wenn noch irgend etwas von wirklichem Seelenadel ist. Ich sah in die sonst grauen, einförmigen Straßen hinaus, in welchen zunächst Barbiere und Haarkünstler, wie steckbrieflich verfolgt, umhereilten, um die vielen Bestellungen an struppigen Männerbärten und seidenen Damenlockenköpfen rechtzeitig auszuführen. Modisten und Schneider liefen mit wirrem Haar, übernächtlich aussehend, mit großen Bündeln unterm Arm, darunter gewiß mit manchem acht- und zehnfach gefalbelten Pluderkleid, welches heute schöne Gestalten häßlicher machen und häßliche in Muster von Abschreckungstheorie und Wolfsschluchtungeheuern verwandeln sollte.
Manchester ist Residenz einer neuen politischen Zukunft, sehr liberal, aber auch sehr loyal. Es liebt, wie ganz England, seine Königin, und hat eine Brücke, Hotels und Straßen nach ihr benannt. So wie Jemand vom Hofe in die Stadt kommen will, springt der Lord-Mayor heraus mit der Geschwindigkeit eines Chausseeeinnehmers. Heute, wo nun der Prinz Albert im Namen der durch Wochenbett abgehaltenen Königin den großen Kunsttempel eröffnen sollte, verrieth schon der nicht grauende, sondern in der Wolle graugefärbte Morgen freudig aufflatternde Zeichen dieser Loyalität. Während die Straßen noch leer und die meisten Rouleaux noch verschlossen waren, wurde es auf unzähligen Dächern lebendig. Menschen, nicht größer wie Katzen auf den ungeheuern Häusern und Magazinen, kletterten umher, um ungeheuere Stangen zu befestigen und schiffssegelgroße Fahnen und Flaggen zu entfalten: Union Jacks und königliche Standarten in allen Größen und Stoffen. In Moseley-Street, wo einige der größten Baumwollenlords wohnen, flatterte und wehrte es so dicht und mächtig von ganz Oben bis ganz Unten, daß Manchem der Hut abgeschlagen ward, während oben im vierten Stockwerk ein Windstoß in den farbigen Kattun blies. Um acht Uhr sah ganz Manchester aus, als hätten alle drei vereinigten Königreiche alle ihre Fahnen und Flaggen zum Waschen hierher gesandt, und die große Nationalwäsche sei eben aufgehangen zum Trocknen. Jede Karre, jeder Wagen, jeder Omnibus flaggte und fahnete; selbst Karren mit Eisenbahn-Packeten flatterten mit baumwollenen Taschentüchern; sogar ein schwerer, schwarzer Steinkohlenwagen donnerte wie ein Erdbeben von der Victoriabrücke her mit je zwei noch nicht zerschnittenen Taschentüchern auf jeder Ecke. Um neun Uhr wurden wir von unserm Thee mit Eiern, Speck, Wasserkresse, Shrimps u. s. w. aufgeblasen. Ein kleines Regiment mit ungeheuern breiten grünen Schärpen, der alte Orden der Wäldler, Waldkundigen („Foresters“) wackelte hinter nationaler Musik her durch die Straßen. Ihnen folgte die nicht minder seltsame Procession einer alten lustigen Gilde, die sich selbst „wunderliche Kerle“ (Odd fellows) nennen, mit grünen Bannern und goldenen Sprüchen darin. Bei dieser Gelegenheit füllten sich auch Fenster, Dächer, Droschkendächer, Omnibusfirsten, alle mögliche natürliche und extemporirt künstliche Erhebungen mit Menschen, besonders kletterelastischen, übermüthigen Jungen, und die Straßen wurden ein Rollen und Knattern von allerhand bewimpeltem Fuhrwerk, von schweren Staats-Equipagen bis zu leicht fliegenden „Broughams“ u. s. w. Droschken und Omnibus raseten so polizei- und lebenswidrig, wie ich es noch nie gesehen. Jeder dachte bei der ersten Fahrt an die zweite und dritte und an das Geld, das heute herauszuschlagen war. Die Gasthöfe und Vermietherinnen möblirter Zimmer erhoben heute ihre doppelten Preise auf’s Dreifache. Bierläden und Hotels erschienen mit neuen, mächtigen Aushängeschildern, welche „Kunst-Schatz-Bier“ drei Pence pr. Pot ankündigten. Eine Restauration nannte sich Kunstschatz-Eßhaus. Gewöhnliche Bretter auf Pfosten, welche die Höhe der Menschen um die eines Tisches vergrößerten, hießen „Kunstschatz-Schauplätze“, einen Penny per „Stand.“
Ach und das Gedränge und Gegapse und Gelaufe, als wir uns endlich der Ausstellung näherten! Manche schwitzten schon triefend und fluchten, als sie sich mit dem bereits gestohlenen Taschentuche den Schweiß abtrocknen wollten. Weiber mit Körben und Männer mit Kindern auf jedem Arm und noch andern an den Rockflügeln (in England trägt immer der Mann die jüngere Nachkommenschaft) wurden auseinander gerissen und schrieen oder klammerten sich fest an einander, entschlossen, nur über ihre Leichen Jemanden durchzulassen. In Stretford Road, der großen Hauptstraße zum Kunsttempel, hatten sich drei- und vierfache Wagenreihen festgefahren. Die Fußgänger wurden von Bier- (Nessel-Bier-) und Samenkuchenbuden und Baukünstlern mit Brettern und Stühlen (die noch „Schauplätze“, 1 Penny per Stand, bauen wollten) verbarrikadirt. Das ist überall die Folge zu großer Eile. Es ging schrecklich langsam. Ich studirte dabei in mehrere Equipagen hinein: Damenhüte und die Gesichter weit davor. Die Hüte hängen nicht mehr am Hinterkopfe, sondern sind blos Dachtraufe ganz unten am Nacken geworden. In Old Trafford, der Ausstellung ziemlich nahe, waren die Häuserfronts und Dächer mit Köpfen bepflastert. Selbst leere Häuser mit Zetteln: „zu vermiethen“ zählten mehr Einwohner, als Platz fanden. Endlich hieß es: Nun sind wir gleich da, da ist er! Wer? Der Kunsttempel! Wo? Die Wagen waren alle größer, als der Kunsttempel, der so niedrig breit und lang gestreckt da lag, wie ein auf die Nase gefallener Thurm, wie ein langer, breiter Eisenbahn- oder Güterschuppen. Es war die auf die Erde, unter die Massen des Volks niedergesenkte Erhabenheit der alten, zum Himmel emporstrebenden gothischen Dome. –
Mein Freund, ehemals von Profession verdorbener Assessor ohne Gehalt in Berlin, jetzt Orakel und Lehrer der Baumwollen-Lords-Jugend in Manchester, hatte nicht nur Freibillets, sondern auch privilegirte Freibillets, welche uns Zutritt in das für Prinz Albert feenhaft decorirte Zimmer am Eingange verschafften: rothseidene Damaststühle mit luftballonartigen, weichen Schwellungen selbst an den Lehnen, goldener Tisch, Sammetgardinen, goldenes Schreibzeug mit einem Malachitschnitzwerk u. s. w., daneben ein Ankleidezimmer (falls der Prinz im Negligée gekommen sein könnte) mit einem marmornen Cupido, der ein Waschbecken hält, Haarbürsten, Kämmen, Nagelscheeren, Nagelbürsten, Nagelfeilen, 5 bis 6
verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 289. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_289.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)