verschiedene: Die Gartenlaube (1857) | |
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auch seitdem eine besondere Unabhängigkeit unter Vicekönigen bewahrte) wohnen die hohen Behörden und die reichen Kaufleute, die Abends ihre Geschäfte verlassen, wie dies in London Mode ist, um in ihren Palästen zu schlafen, nur daß London in die Umgegenden eilt, Canton in’s Innere.
Einige haben mit Lebensgefahr das Innere besucht, aber größtentheils sehr enge Straßen und nur einige prächtige Plätze mit Palästen gefunden. Das Leben fällt in die Vorstädte, deren eine mit 300,000 Bewohnern ganz auf dem Wasser liegt. Die Gärten, die Kneipen, die Spielhäuser liegen alle in den Vorstädten. Spielen und Wetten ist eine Hauptleidenschaft, besonders mit Wachteln. Wachteln vertreten dort die englischen Rennpferde. Mitten auf der Straße, besonders an den Bollwerken, fordern sich ein Paar Wachtelbesitzer heraus, nehmen die Herausforderung an, lagern sich im Kreise von Zuschauern, die sofort auf eine oder die andere Wachtel wetten, und holen ihre mit künstlichen Stahlkrallen bewaffneten, abgerichteten Kämpfer heraus. Nachdem alle Wetten arrangirt sind, läßt man sie los und verfolgt deren grimmiges Duell mit der todtenstillsten Spannung, bis die eine flieht oder todt liegen bleibt. Dann jubelt’s und schreit’s und die Wetten werden sofort durch klingende Münze oder sonstige Tausche ausgeglichen. Manchmal bietet ein Enthusiast verwegene Preise auf die Siegerin, die aber selten für irgend einen Preis zu haben ist, wenigstens nicht unmittelbar nach dem Siege. Das Abrichten und Verkaufen von, und das Wetten auf Wachteln ist eine Hauptpassion aller Classen. Unter den Mandarinen liebt man auch Hahnenkämpfe. Auch Kartenspiele, Schach, Domino, Würfel u. s. w. müssen die allgemeine Spiellust befriedigen. Das Wachtelwettspiel, Tsoi-moi, wird am leidenschaftlichsten unter Fischern und Schiffern getrieben. Man findet sie allenthalben barfuß und halb nackt mit kurzen Pfeifen im Munde am Flusse, im Schmutze, in der Sonne um solche kämpfende Wachteln gelagert.
Aber was rasselt und ächzt hier durch die Menge? Ein „Tscha-“ oder „Cangue-Wanderer“ mit einem Holzpfosten von 60 bis 200 Pfund um den Hals und an einer Kette einher geschleppt. Auch sind in der Regel die Hände oben mit eingeklemmt. An diesem furchtbaren Halsbande, das der Verbrecher oft Wochen und Monate lang alle Tage auf der Straße herumtragen muß, wenn er nicht in brennender Sonne zusammensinkt und von dem Führer an der Kette aufgepeitscht wird, ist das richterliche Erkenntniß und eine Erzählung seines Verbrechens angeklebt. Ueberhaupt sind die Strafen in China durchweg scheußlich und grausam. Wenn wir jemals von einer sittlichen Entrüstung der „westlichen Civilisation“ gegen diese Barbareien gehört und die Ueberzeugung gewonnen hätten, daß man die Barbarei wirklich niederbombardiren wolle, um den Chinesen Humanität und Erlösung zu bieten, könnten wir uns mit Englands Politik versöhnen. Sie beruht aber auf Opium, Lüge und Heuchelei. Und damit kann sich kein anständiger Mensch einverstanden erklären. –
Aeltere Leute, die in den Jahren 1826–28 sich als schon Erwachsene in Leipzig aufhielten, werden sich eines Mannes erinnern, wenn sie ihn anders ihrer Aufmerksamkeit für würdig hielten, welcher im erstgenannten Jahre seine Wohnung in dem alten und durch Eleganz und Comfort eben nicht ausgezeichneten Gasthof „zur Säge“ in der Dresdener Straße nahm und über zwei Jahre dort verweilte. Er nannte sich Oberst Gustavson, zeigte in seinem Aeußern aber nichts weniger als Habitus und Ajustement eines Obersten, vielmehr deuteten seine unansehnliche Kleidung, seine zwar nicht kleine aber doch verkümmerte Gestalt und sein scheues unbeholfenes Wesen auf einen beschränkten Kleinbürger aus einer kleinen Stadt; ich würde ihn z. B. für einen Schuhmacher aus Grimma gehalten haben, nach Leipzig gekommen, um sich für wenige Thaler Leder einzukaufen. In der That sah man an diesem „Obersten“ keine weiße Wäsche. Ein abgetragener runder schwarzer Filzhut, ein dunkelbrauner, auch nicht mehr neuer Rock bis unter das Kinn zugeknöpft, ein einfaches schwarzseidenes Halstuch, dunkelgraue lange Beinkleider und Stiefeln machten die Bekleidung desselben aus. Ein schlichter Stock war in seinen von Handschuhen nie bedeckten Händen. So ging er langsamen Schrittes, in gedrückter Haltung, scheu und in sich versunken, gewöhnlich in den spätern Vormittagsstunden in den Anlagen um die Stadt, stets allein, mit Niemand verkehrend. Seine Wohnung in der „Säge“, die ein Gasthof untergeordneten Ranges war, diente auch nicht dazu, die Begriffe von der Vornehmheit dieses Herrn zu steigern. Um so mehr werden die Leser überrascht sein, wenn ich ihnen sage, daß dieser einfache und bescheidene Fremde der ehemalige König von Schweden Gustav IV. Adolf war. Mein Erstaunen war nicht minder groß, als ich ihn in dem beschriebenen Anzuge zum ersten Male sah, und es hat sich nicht verringert, als ich ihn später noch mehrmals gesehen und auch gesprochen habe.
Oberst Gustavson, wie er sich seit ungefähr zehn Jahren nannte, stand damals im achtundvierzigsten Lebensjahre, aber er sah um mehrere Jahre älter aus. Schon seit siebzehn Jahren vom schwedischen Königsthrone entfernt und von seiner Gemahlin und Kindern getrennt, lebte er bald hier bald dort, am längsten in der Schweiz, ohne Plan und Zweck, ohne nützliche Beschäftigung, ein freudloses armseliges Leben. Zwei Jahre vorher hatten die schwedischen Reichsstände der vertriebenen Königsfamilie statt der früheren Rente von fast siebzigtausend Thalern ein Capital von siebenmalhundert tausend Thaler ausgezahlt, aber Herr Gustavson nahm davon für seine Person nicht das Geringste an, wie er auch früher nichts von der Rente bezogen hatte. Er bestritt seine Existenz von den Zinsen eines sehr kleinen Capitals, welches er als sein alleiniges Eigenthum betrachtete. Seine fast ängstlich einfache Lebensweise erforderte allerdings keinen Aufwand, nichtsdestoweniger erging es ihm knapp, wie ich mich einige Jahre später überzeugte. Die eiserne Unbeugsamkeit seines Charakters hatte mehr als einen schönen und ehrenwerthen Zug in seiner kurzen Königsgeschichte geliefert, aber sie hatte, zur trotzigen Hartnäckigkeit und Starrsinnigkeit ausgeartet, ihn auch um Thron, Familienglück und Lebensbequemlichkeit gebracht. Man sah ihm diesen steinernen Trotz an; überhaupt verriethen seine Züge dem aufmerksamen Beobachter einen ungewöhnlichen Menschen. Er glich wirklich einem Steinbild an Farbe und Unbeweglichkeit und die großen verschwommenen Augen mit dem unbestimmten Blick hatten einen seltsam träumerischen, schier unheimlichen Ausdruck. Es war das Auge und der Blick eines religiösen Schwärmers und in die Beschattung seiner innern Welt versunkenen Mystikers. In der That waren Aberglaube und Mysticismus auf ungewöhnliche Weise in ihm mit Starrköpfigkeit und Rauhheit vereinigt. Daß er keiner milden schönen Gefühle fähig war, sondern nur die Treibhaushitze mystischer Schwärmerei seinen Geist bewegte, konnte man schon aus seinem von düster finsterer Braue überschatteten Auge und aus seinem knappen wunderlich gekräuselten Munde herauslesen. Und in der That darf man der Wahrheit gemäß behaupten, daß fast eben so sehr sein geistiges Versenken in die Offenbarung Johannis und in Swedenborgs und Jung-Stillings mystische Schriften den Verlust seines Thrones verschuldet hat, als sein auch nicht zur kleinsten Nachgiebigkeit zu bewegender Starrsinn. Obgleich dieser unglückliche Mann von seinem romantisch ritterlichen Vater nach Jean Jacques Rousseau’s „Emil“ erzogen worden war, so fehlte ihm doch die Klarheit des Verstandes, die ruhige nüchterne Beurtheilungskraft, die wahre moderne Geistesbildung. Wie auch können sich ritterliche Romantik und die Erziehungs- und Lebensgrundsätze des einfachen „Bürgers von Genf“ mit einander vertragen? Die gewaltsame Zusammenmischung eines veralteten im Absterben begriffenen Zeitgeistes mit den Regungen des jungen Genius, der sich zum Weltherrscher zu bilden im Begriff ist, muß durchaus schwache Köpfe verwirren, und Individuen wie Völker sind daran schmählich untergegangen. Gewöhnlich schlägt in kleinen Geistern dieses widernatürliche Mixtum compositum in Mystik, Geisterseherei, Quietismus, Herrnhuterei und Quäkerei aus. Wer keinen Halt in sich findet, greift wankend nach solchen Dingen, um sich daran festzuhalten. Dann hat er aber den allein sichern und festen Haltpunkt in sich aufgegeben und für immer verloren. Welch’ unsägliches Unheil hat nicht dieser Swedenborg
- ↑ „Medaillon“ aus dessen Denkwürdigkeiten. Die Redaction.
verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 283. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_283.jpg&oldid=- (Version vom 12.9.2022)