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Seite:Die Gartenlaube (1857) 248.jpg

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

und sein Antlitz wird sich tauchen in die kühlende Fluth! Er verläßt den himmlischen Anblick mit keinem Auge. Aber einmal sinken doch die matten Augenlider. Er erhebt sie wieder und vor ihm gähnt und glüht wieder die leere, gluthzitternde Wüste. Die „Wasser des Satans“ sind spurlos verschwunden. Dies traf sein Leben. Sein Haupt sinkt zusammen, zusammen sinkt die ganze Gestalt, und auf seine Zunge fällt der schwarze Tropfen vom Schwerte des Todesengels. Diese Nacht wird er bei seinen Vätern sein.“

Er ist todt, entsetzlich todt. Aber es gibt keinen Tod. Auch die Wüste ist Leben. Ein windgescheuchtes Distelsaamenkorn, ein Dattelkern im Sande findet das vermoderte Gebein, faßt Wurzel und keimt. So legt sich der Grund zu einer Oase. Dreimal dörrt sie die Sonne aus und begräbt sie in Sand, aber die Leichname der ersten Pflanzen werden Geburtsstätten einer zahlreicheren Pflanzenwelt, die eine Sonnengluth aushält, um jedem neuen Angriffe neue Streitkräfte und endlich gar eine Quelle entgegenzusetzen. Jetzt hat sie gewonnen. So stehen die Gebeine der Verdorrten wieder auf als Pflanzen, als Futter, als Bestandtheile von Vieh und Menschen und als Menschen. So erfüllt sich das Wort des Propheten: „Die Wüste wird jubeln und blühen wie die Rose.“




Ein Ball im Irrenhause.

Zufällig führte mich ein kleiner Ausflug, den ich zu meiner Erholung machte, nach dem Städtchen L…s, das eine weit bekannte und berühmte Irrenanstalt besitzt. Ich erinnerte mich bei meiner Ankunft, daß der Director derselben einer meiner Universitätsfreunde war, und beschloß, demselben meinen Besuch abzustatten und zugleich das von ihm geleitete Institut in Augenschein zu nehmen. Von jeher hatte ich mich für Geisteskranke und deren Behandlung ganz besonders interessirt; die pathologischen Zustände der menschlichen Seele waren mein Lieblingsstudium, und ich versäumte keine Gelegenheit, meine Kenntnisse auf diesem Gebiete zu bereichern. Sobald ich daher meine Reisetoilette einigermaßen in Ordnung gebracht hatte, ließ ich mich nach dem eine Viertelstunde von der Stadt entfernten Irrenhause führen. Die Anstalt selbst lag in einer sehr gesunden Gegend auf einem Hügel, von dem ich die herrlichste Aussicht auf die fruchtbare Gegend genoß. Das Gebäude war in früherer Zeit ein reiches Kloster gewesen und man weiß, daß die Mönche es fast immer verstanden, den schönsten Punkt für ihre Ansiedlungen zu wählen. Grüne Thäler und mit Reben bepflanzte Hügel wechselten mit einander ab. Der blaue Strom schlängelte sich durch üppige Wiesen und der Duft des frisch gemähten Grases vermischte sich mit dem balsamischen Harzgeruch der benachbarten Fichtenwälder. Rings herum herrschte eine wohlthuende Stille, die rechte Waldeinsamkeit, ganz geeignet, den Frieden einem zerrütteten Gemüth wiederzugeben. Die Lage konnte nicht besser und passender sein. Ein wohlgepflegter Weg führte zwischen Obstbäumen und blühenden Linden zu dem Institut, das eher einer großen ländlichen Besitzung glich, als dem Aufenthalte der Wahnsinnigen. Nichts mahnte an diese traurige Bestimmung; es schien Alles vermieden zu sein, was daran erinnern konnte. Durch einen zweckmäßigen Umbau und Hinzufügung einiger Seitenflügel war das alte Kloster in einen Palast umgeschaffen worden. Ich glaubte ein Gefängniß, einen düsteren Kerker, eine Wohnstätte des Jammers mit finsteren Zellen zu finden, und sah mich in jeder Beziehung angenehm enttäuscht; dennoch konnte ich mich eines leisen Schauers nicht erwehren, als ich vor der rings herumgezogenen hohen Mauer stand und Einlaß begehrend an dem verschlossenen Thore pochte. Draußen lag die Welt der vernünftigen Wesen, und hier drinnen war das Reich des Wahnsinns und des Irrthums. Nur eine leichte Scheidewand trennte Beide von einander, wie in unserem eigenen Gehirn, wo die Grenzen ebenfalls dicht nebeneinander liegen und kaum bemerkbar in einander fließen.

Ein alter Portier öffnete und fragte nach meinem Anliegen. Ich verlangte den Director zu sprechen.

„Das wird kaum angehen,“ sagte der Hüter, „da der Herr Director eben die Visite machen. Wollen Sie indeß eine Viertelstunde hier verweilen, so werden Sie ihn dann sprechen können. Sie dürfen nur im Garten so lange warten.“

Mit diesen Worten zeigte er mir den Weg über den weitläufigen Hof nach dem hinter der Anstalt liegenden Park. Derselbe war mit vielem Geschmack angelegt und mit der äußersten Sorgfalt gepflegt. Hohe, uralte Eichen, unter deren Schatten einst die Mönche als frühere Bewohner des Hauses wandelten, standen hier in seltener Pracht und schauten wie ehrwürdige Patriarchen auf den jüngeren Nachwuchs der Bäume, welche weit später angepflanzt sein mußten. Der Garten zerfiel in mehrere Abtheilungen für Küchengewächse, Zierpflanzen und selbst für Feldfrüchte. Ich sah Kartoffeln und Kohlstauden von außerordentlicher Größe und Schönheit. Einzelne dieser Abtheilungen waren sorgfältig verschlossen, und mit einem eisernen Gitter rings umzogen. Ich begegnete auch verschiedenen Arbeitern, welche emsig mit Graben, Jäten, Harken und Anpflanzen beschäftigt waren; sie schienen mich wenig oder gar nicht zu beachten und ganz in ihre Arbeit vertieft. Ihrem anständigen Aussehen und ihrer Kleidung nach mußte ich sie für hier angestellte Gärtner halten; nur wunderte ich mich über die große Anzahl derselben, die mir in keinem rechten Verhältnisse zu dem beschränkten Bodenraum zu stehen schien.

Unter ihnen zog ein alter Mann ganz besonders meine Aufmerksamkeit auf sich; er stand vor einem eben oculirten Baum und sprach ganz laut, so daß ich in einiger Entfernung jedes Wort verstehen konnte. Anfänglich konnte ich mir nicht erklären, mit wem er sich eigentlich unterhielt, und ich vermuthete irgend einen mir unsichtbaren Gefährten, bis ich meinen Irrthum gewahr wurde. Der Arbeiter redete bald mit sich selber, bald mit seinem von ihm oculirten Stamme, den er wie ein lebendes Wesen behandelte.

„Wirst Du auch fortkommen?“ fragte er mit zitternder Stimme, die etwas unendlich Rührendes für mich hatte. „Oder willst Du auch zu Grunde gehen? O, nur nicht sterben! Der Tod ist schrecklich, sehr schrecklich. Ich kenne ihn, er hat mich besucht und mir Alles fortgenommen, Alles, Alles. Du darfst mir nicht sterben, wie meine Kinder, die armen Kinder und die Blumen, die alle mitgestorben sind. Ich bin ein unglücklicher Mann. Was ich berühre, verwelkt, und Du wirst auch verdorren.“

Während der Alte so sprach, strömte eine Thränenfluth über seine eingefallenen bleichen Wangen und sein Schmerz erschütterte mich selbst auf das Höchste. Ich vergaß fast, daß ich mich in einem Irrenhause befand, und wollte ihn anreden und zu trösten versuchen. Als ich mich jedoch bis auf einige Schritte ihm genähert hatte, erschien einer der immer hier verweilenden Aufseher und hielt mich zurück.

„Sie scheinen fremd zu sein,“ sagte derselbe mit Höflichkeit, „sonst würden Sie wissen, daß Niemand mit den Kranken hier reden darf.“

„Das Schicksal des armen Mannes geht mir nahe. Er hat gewiß in seinem Leben große Verluste und Familienkummer gehabt?“

„Keineswegs,“ antwortete der Aufseher. „Er ist nur ein schwerer Hypochonder, der sich einbildet, daß seine Kinder gestorben sind.“

„Wie, sie leben noch?“

„Allerdings, aber er hält sie für todt, und gibt trotz aller angewandten Mühe den Glauben nicht auf.“

„Und hat man nicht den Versuch gemacht, durch die Gegenwart seiner Angehörigen ihn von seinem Wahne zu heilen?“

„Das nutzte nichts; er blieb dennoch fest bei der Meinung stehen und behauptete, daß sie nur die Geister der Verstorbenen wären. Trotzdem hofft der Herr Director, ihn noch herzustellen. Seit er im Freien arbeitet, hat sich sein Zustand bedeutend gebessert, und es gibt wenigstens Augenblicke, in denen er seinen Irrthum vollkommen einsieht.“

Da indeß die Viertelstunde, wo ich den Director erwartete, vorüber war, so verließ ich den Garten und den freundlichen Aufseher. Einen Blick des tiefen Mitleids schenkte ich noch dem armen Hypochonder, obgleich ich wußte, daß seine Leiden eingebildet waren. Aber ist denn der Schmerz, den wir zu empfinden glauben, nicht eben so traurig und peinigend, wie die Wirklichkeit? Welcher Unterschied besteht denn zwischen einem derartigen Unglücklichen und dem Familienvater, der in Wahrheit den Verlust seiner Familie zu beklagen hat? Fühlte der Wahnsinnige minder tief, minder wahr?

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 248. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_248.jpg&oldid=- (Version vom 2.5.2022)