verschiedene: Die Gartenlaube (1857) | |
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Wohl über kein Institut unserer deutschen Rechtsgeschichte sind noch bis auf den heutigen Tag, namentlich unter den Laien, irrigere Vorstellungen verbreitet als über die „Gerichte der heiligen Vehme.“
Die Meisten können sich diese Gerichte gar nicht anders denken, als daß sie dieselben in ein unterirdisches Gewölbe, eine Höhle, eine unheimliche Ruine oder in das nächtliche Dunkel eines Waldes versetzen, und gewiß glaubt derjenige ein recht klares Bild von ihnen zu haben, der in Goethe's Götz von Berlichingen die Scene gesehen hat, in welcher die vermummten, in lange schwarze Mäntel gehüllten Vehmrichter über Adelheid von Weislingen zu Gericht sitzen und der Aelteste das Urtheil verkündet:
„Sterben soll sie! sterben des bitteren doppelten Todes;
„mit Strang und Dolch büßen doppelt doppelte Missethat. Streckt eure Hände empor und rufet Weh über sie! Weh! Weh! in die Hände des Rächers!“
und nun alle die verkappten schwarzen Gestalten mit dumpfen Stimmen in den unheimlichen Ruf ausbrechen: „Weh! Weh! Weh!“
Derartige Vorstellungen aber sind grundfalsch und es dürfte wohl nicht uninteressant sein, über dieses merkwürdige Rechtsinstitut, das Jahrhunderte lang, bis es ausartete und beseitigt werden mußte, eine gewaltige Macht über das ganze deutsche Reich zum gerechten Schrecken der Schuldigen und zum Segen der Gefährdeten und Verletzten entwickelte, so wie über seine Entstehung, seine Verfassung und sein Verfahren einige Aufklärung zu verschaffen.
In der vorcarolingischen Zeit, also bis in das achte Jahrhundert nach Chr., ging in den deutschen Landen Recht und Rechtspflege lediglich vom Volke aus. Jedes Gericht bestand aus einer Anzahl freier, ansässiger, waffenfähiger Männer, den sogenannten „Urtheilsfindern,“ welche für jeden einzelnen Fall aus dem Volke, das sich zum Zweck des abzuhaltenden Gerichts versammelt hatte, ausgewählt wurden.
Seit Kaiser Karl dem Großen erlitt dies aber eine Aenderung.
Nachdem nämlich mit dem ganzen Reich behufs einer sicherern Ueberwachung und geordnetern Verwaltung die so überaus wichtige und folgenreiche Eintheilung in Comitatus, d. h. größere Länderbezirke mit einem kaiserlichen Beamten: comes, (Graf) an der Spitze vorgenommen worden war, wurde für die Gerichte im Bezirke dieses Grafen ein für allemal eine gewisse Anzahl Männer zu „Urtheilfindern“ bestellt, welche nunmehr den besondern Namen scabini „Schöffen“ erhielten. Das übrige Volk ward dadurch jedoch keineswegs von aller Theilnahme an der Rechtspflege ausgeschlossen, dasselbe behielt vielmehr insofern immer noch einen gewissen Antheil an derselben, als es nicht nur berechtigt blieb, bei den Gerichten der Schöffen als sogenannter „Umstand“ gegenwärtig zu sein, sondern von jenen selbst in schwierigeren und wichtigeren Fällen zu Rathe („in das Gespräch“) gezogen wurde, überdieß auch jeder Einzelne aus dem „Umstände“ befugt war, das von den Schöffen gefundene Urtheil anzufechten (zu „schelten“).
Eine ganze Provinz, d. h. eine Reihe von Gauen und Grafschaften, stand unter der Oberaufsicht eines höchsten kaiserlichen Beamten, des sogenannten Sendgrafen, der, um die gesammte Verwaltung zu inspiciren, das Land alljährlich durchreiste und sogenannte Placita, (Provinziallandtage) abhielt, auf welchen die einzelnen Grafen mit einigen ihrer Schöffen erscheinen mußten. Bei Gelegenheit dieser wurde denn zugleich auch in denjenigen Fällen Gericht gehalten, in welchen der Graf Recht verweigert hatte oder der Beklagte nicht zu erlangen gewesen war. Wie alle Versammlungen des Volks fanden auch alle Gerichte auf offenem Felde, unter freiem Himmel statt, und das ganze Verfahren war, da Jedermann freien Zutritt zu denselben hatte, ein durchaus öffentliches. War der Vorgeladene erschienen, so mußte der Kläger seine Klage vorbringen und er konnte, wenn der Beklagte leugnete, letzteren sofort zum Zweikampfe herausfordern, weil man glaubte, in einem solchen Zweikampfe würde die Gottheit demjenigen, welcher im Rechte sei, den Sieg verleihen. Unterließ der Kläger eine solche Herausforderung, so hatte er nicht etwa seine Klage zu beweisen, sondern dem Beklagten lag ob, sich von derselben zu „reinigen.“ Unserer Rechtsauffassung erscheint freilich eine solche Vertheilung der Beweislast ganz unnatürlich, sie findet aber ihre gute Erklärung in dem altgermanischen Recht der Fehde, d. h. der blutigen Rache, indem der Einzelne für eine erlittene Verletzung sich eigenmächtig Genugthuung verschaffen durfte und der Beklagte von der gegen ihn gerichteten Beschuldigung nur dadurch sich befreien konnte, daß er in dem Kampfe den Sieg davon trug.
Die Art und Weise, wie sich der Beklagte von der erhobenen Klage reinigte, geschah zunächst durch seinen Eid; dieser allein aber reichte zu feiner Freisprechung nicht hin, vielmehr mußte mit ihm noch eine Anzahl sogenannter „Eideshelfer“ schwören, die den Eid des Beschuldigten dadurch bekräftigten, daß sie eidlich ihre Ueberzeugung betheuerten, der Angeklagte sei im Rechte, er schwöre „rein und nicht mein“ (einen reinen Eid, nicht einen Meineid). Leistete er den Reinigungseid nicht, oder fanden sich die erforderlichen Eideshelfer nicht oder erschien der Beklagte auf die an ihn erlassene Vorladung gar nicht, so wurde er verurtheilt und zwar traf ihn, wenn es sich um ein Verbrechen handelte, die Acht, durch die er dergestalt fried- und rechtlos wurde, daß ihn Jedermann ungestraft tödten konnte.
Nach den carolingischen Kaisern bis etwa in das dreizehnte Jahrhundert verschwanden diese Grafengerichte allmählich fast aus ganz Deutschland und wurden landesherrliche, weil um diese Zeit die Grafen sich selbst zu Herren des Landes machten und die Grafengewalt, die sie bisher nur als ein kaiserliches Amt ausgeübt hatten, als ein selbstständiges, erbliches Recht, und damit die Herrschaft über ihren Gau, d. h. die Landeshoheit sich anmaßten. Nur in einem Theile Deutschlands blieb es noch eine geraume Zeit beim Alten. In Westphalen nämlich entwickelte sich die Landeshoheit erst später und deshalb erhielten sich hier auch die altgermanischen Gerichte als kaiserliche viel länger, indem immer noch ein Graf, der nunmehr Freigraf hieß, an ihrer Spitze stand. Selbst als endlich auch in Westphalen die Landeshoheit um sich griff, änderte sich dies nur insofern, als seitdem an die Stelle des Freigrafen der Landesherr trat, dieser aber die Gerichtsbarkeit nicht als ihm eigenes Recht ausübte, sondern mit derselben als sogenannter Stuhlherr vom Kaiser nur belehnt wurde.
Aus diesen westphälischen Gerichten gingen die Vehmgerichte hervor. Seit wann sie ausschließlich so genannt wurden, läßt sich geschichtlich nicht nachweisen; ebensowenig weiß man noch heutigen Tages eine untrügliche Erklärung des Namens zu geben; jedenfalls aber ist die Ansicht von Grimm die wahrscheinlichste, daß das altdeutsche Wort: Vehmeso viel als „Ding“ d. i. Gericht bedeutet.
Während in allen übrigen Gerichten nur der unmittelbar oder wenigstens mittelbar Verletzte (z. B. der Ehemann für die Ehefrau) als Ankläger auftreten konnte, hielten sich die westphälischen Schöffen („Freischöffen“) für berechtigt, bei gewissen, namentlich schwereren Verbrechen in ihrem Namen als Ankläger („Rüger“) vor den Freigerichten Klage zu erheben. Aus diesem Recht wurde dann eine Pflicht und diese mußte von jedem einzelnen Schöffen mittelst Eides ausdrücklich übernommen werden. Anfangs beschränkte sich freilich diese Rügepflicht nur auf den Sprengel jedes einzelnen Gerichts, später aber, namentlich bei der immer mehr überhand nehmenden Rechtsunsicherheit, erstreckte sie sich für gewisse Fälle über denselben hinaus. Leistete nämlich der Angeschuldigte der Ladung seines ordentlichen Richters keine Folge, oder weigerte sich dieser Richter, den Beklagten zum Erscheinen vor sein Gericht vorzuladen, was leider nur zu häufig vorkam, dann glaubten es die westphälischen Freischöffen übernehmen zu müssen, dem verletzten Rechte Genugthuung wiederfahren zu lassen und das begangene Verbrechen in ihrem Namen zu „rügen“; sie hielten sich hierzu um so mehr für berechtigt, als sie ja die Schöffen von kaiserlichen Gerichten waren, die als solche im ganzen deutschen Reich Anerkennung finden mußten.
In dieser Ausdehnung lag damals ein großer Segen, denn gar traurig sah es in der Zeit des Faust- und Fehderechts im deutschen Reiche aus. Ueberall herrschte die größte Willkür, überall die Macht des Stärkeren. Die abscheulichsten Verbrechen wurden ungestraft verübt, denn in vielen Fällen wollte, in den meisten konnte der Richter des Thäters nicht habhaft werden, weil bei der Menge von Territorien, in welche das deutsche Reich zerfiel, es dem Verbrecher ein Leichtes war, aus einem in das andere zu fliehen und so der Verfolgung seines ordentlichen Richters zu entgehen. An eine nur einigermaßen geordnete Polizei war nicht
verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 237. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_237.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)