verschiedene: Die Gartenlaube (1857) | |
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No. 17. | 1857. |
Die Situation wurde verwickelter; die Entscheidung wurde mit jedem Momente schwieriger. Und noch mehr drängte sie. Ich mußte noch heute, noch an demselben Abend, der schon längst hereingebrochen war, Gewißheit haben, ob der Dieb in meiner Gewalt sei oder nicht. War er es, und wußte ich es nicht heute und hielt ich ihn demnach nicht noch heute fest, so waren Tausend gegen Eins zu wetten, daß er morgen früh über alle Berge war, und mit ihm die zwanzig tausend Thaler des armen B. Andererseits konnte er noch immer nicht der Dieb sein, und für diesen Fall war jedes Aufsehen, namentlich jede gewaltsame Maßregel zu vermeiden. Zwar nicht so sehr um seinetwillen, denn ein Verdacht lastete einmal auf ihm; dieser Verdacht mußte auf der einen oder anderen Seite hin nothwendig aufgeklärt werden; kam die Unschuld heraus, so lag darin eine vollständige Genugthuung. Desto mehr Schonung bedurfte es für die unglückliche Ottilie; jeder Eclat, der ihr nur zu dem leisesten Verdachte Veranlassung geben konnte, führte auch die Gefahr eines tödtlichen Angriffes auf den zarten, kranken Organismus mit sich. Ich mußte hier einmal alle anderen Mittel des Polizeimenschen bei Seite lassen und mich blos auf meine psychologischen Künste beschränken. Sie mußten in Anwendung gebracht werden, um eben so behutsam wie rasch zum Ziele zu gelangen. Danach machte ich meinen, allerdings sehr einfachen Plan.
„Kennt mich der junge Mann?“ fragte ich die Oberstin.
„Ich glaube nicht; er hat nie von Ihnen gesprochen.“
„Auch ich glaube es nicht; soviel ich weiß, war er nie in der Residenz. – Kommt er heute Abend noch zu Ihnen?“
„Er muß schon hier sein. Ich hörte vorhin während unseres Gesprächs die Hausthür öffnen und die Stimme meiner Gesellschafterin; sie muß mit den beiden jungen Leuten zurückgekehrt sein und sie werden sich im Gartensalon befinden.“
„Gnädige Frau, darf ich bitten, den jungen Mann durch den Bedienten hierher rufen zu lassen, ohne ihm zu sagen, zu welchem Zweck? Darf ich sie bitten, mich mit ihm hier alleine zu lassen?“
„Ich unterwerfe mich Ihren Anordnungen. Ich bemerke nur noch, daß Eduard D. unter dem Namen Wohlhausen hier ist.“
Die Oberstin klingelte dem Bedienten, befahl ihm, Herrn Wohlhausen herüber zu bitten, und ließ mich dann allein.
Nach einer Minute trat der junge Mann ein. Ich betrachtete ihn näher. Es war wirklich ein schöner Mensch, in dessen Gesicht, Körper und Haltung sich Adel und Geist aussprachen. Der Mensch ein gemeiner Verbrecher! Und welch’ ein verdorbener, abgefeimter, gefährlicher mußte er sein. Es war Jammerschade um ihn.
Er sah mich überrascht an. Er hatte die Oberstin erwartet und fand einen Fremden. Ich überzeugte mich an seinem Blicke vollkommen, daß er mich nicht kannte.
„Mein Herr,“ redete ich ihn an, „Sie heißen Eduard Wohlhausen?“
„Mein Herr,“ erwiderte er vornehm, aber höflich, „darf ich fragen, wer mir die Ehre erzeigt, sich nach meinem Namen zu erkundigen?“
„Ich bin der Polizeidirector – aus –.“
Er erblaßte, er zuckte, es war, als wenn er unwillkürlich einen Schritt zurückfliegen müsse. Aber schon in demselben Momente stand er wieder fest, hoch aufrecht, einen stolzen, kühnen, beinahe herausfordernden Blick auf mich werfend.
„Mein Herr,“ sagte er, „Sie kennen mich?“
„Ja, Herr D–.“
„So werden Sie wissen, daß ich mein Leben vertheidigen werde. Aber bevor Sie es darauf ankommen lassen, eine Bemerkung. Hier im Hause ist ein zartes, krankes Wesen, das Sie tödten würden, wenn Sie Gewalt gegen mich brauchten.“
„Ach, mein Herr, Sie wollen eine kranke, schwache Dame zu Ihrem Schilde gebrauchen?“
Ich sprach mit einem spöttischen Lächeln. Er wurde dunkelroth, dann blaß. Er sann nach; er kämpfte mit sich. Ich mußte mir gestehen, Alles, was ich bisher gesehen und gehört hatte, war Zeugniß eines tüchtigen Charakters. Er hatte in Bewegung wie in Sprache das Bewußtsein und die Ruhe eines Mannes bewahrt. Es kämpfte jetzt in ihm sein Stolz und seine Liebe. War das, konnte das Alles bloße Maske sein?
„Mein Herr,“ sagte ich zu ihm, „seien Sie vorläufig unbesorgt. Die Frau Oberstin Wüsthof zählt mich zu ihren ergebensten Freunden. Gestatten Sie mir einige Fragen an Sie.
„Fragen Sie mein Herr,“ erwiderte er entschlossen.
„Haben Sie vor Kurzem Ihre Mutter verloren?“
„Ja, mein Herr.“
„Sie waren an ihrem Sterbebette?“
„Ja.“
„Wo wohnte ihre Mutter?“
Er nannte den Ort.
„Wie hatten Sie trotz der Wachsamkeit der Polizei zu ihr gelangen können?“
„Ist es zu Ihren Zwecken, die ich nicht kenne, nöthig, daß ich Ihnen darauf eine Antwort gebe?“
verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 229. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_229.jpg&oldid=- (Version vom 24.2.2017)