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Seite:Die Gartenlaube (1857) 228.jpg

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

traurige, hoffnungslose Lage Lord John Russels geschildert ward, so daß es vergeblich und der englischen Ehre zuwider sei, irgend etwas für ihn zu thun. Zettel und Wähler für Lord John Russel bemerkte ich nicht. Er ist doch persönlich ein nobler, alter Herr, der diese gemeinen Schwindeleien verachtet. Freilich hatte er ein Wahlcommittee, bestehend aus 270 der größten Banquiers und Großhändler der City. Außerdem mochte er wissen, daß die Juden ihm wirklich und einig zugethan seien und keiner Wahlumtriebe, keiner Freibillets auf Bier und Schnaps bedürften. Aus der alten, eisigen, steinernen Guildhall hervor hämmerte und donnerte es hervor unter die Bänkelsänger und Agitatoren der vier Candidaten. Equipagen drängten sich hindurch, Damen und Herren stiegen aus und gingen kühn zwischen die Bretter und das Gehämmere und den Wirrwarr im Innern, wo es galt, in höchster Eile die „Poll-Buden“ zu vollenden. Pollbuden, wie Rednerbühnen, werden sonst immer im Freien aufgeschlagen; aber in Guildhall ist Platz, außerhalb aber keiner, so daß das Wahlrecht der „Poll“ im Innern geübt werden konnte. Wenn Candidaten mit der „Nominationswahl“ durch bloßes Händeaufheben nicht zufrieden sind, verlangen sie auf gemeinschaftliche Kosten aller Candidaten (keine Wahl und auch kein Durchfallen mehr möglich ohne 4–5000 Pfund Kosten für Jeden, der gewählt ward oder werden wollte) die Poll, d. h. persönliche, schriftlich aufgenommene, offene Stimmengebung jedes einzelnen Wählers in dazu errichteten Buden. In der City sollte aber für und gegen fünf Candidaten, von denen nur vier gewählt werden konnten, gepollt werden.

Skandal und Gedränge bis 2 Uhr. Der kleine alte Mann, Lord John Russel, tritt mit zwei Freunden herein. Oben sah man seine Gattin und ein paar seiner deutsch erzogenen Söhne mit ihrem deutschen Hauslehrer. Dicht um ihn ward fürchterlich gezischt und gebrummt, oder vielmehr gegrunzt („groaned“ ist das Wort). Seine Gegner hatten sich alle dicht um ihn gedrängt. Die Freunde im Hintergrunde tobten Beifall. Darauf erschien Rothschild, der so oft Gewählte und stets aus dem Parlament Gewiesene, unter rasendem Jubel. Die drei andern Candidaten wurden stiller empfangen.

Der Wahlcommissarius, Mechi mit Namen, ging die verschiedenen Formalitäten durch und bat, jedem Redner ein geduldiges Ohr zu schenken. Eine Stimme aus der Mitte: „Bravo Micki!“ (Furchtbares Gelächter.) Ein Mann, der jetzt auftrat, setzte auseinander, daß Russel 16 Jahre die City vertreten habe und er dies auch künftig möchte (Beifall und Gezische und Gegrunze). So ging’s fort auch während der Rede eines Zweiten, der Lord John Russel vorschlug. Unter ähnlichen Betheiligungen des Publicums wurden auch die vier andern Candidaten vorgeschlagen, so daß die Sache bald undramatisch und einförmig aussah.

Endlich trat Lord Russel selbst auf. Das Beifallsjauchzen dauerte mehrere Minuten. Das hatte etwas zu bedeuten, wir erfuhren auch, was? In seiner trocknen, ruhigen Weise erzählte Lord John, daß man gelogen und betrogen habe und zwar unter Direction eines Palmerston’schen Committee’s, welches ausgesprengt hatte, daß er zurückgetreten sei u. s. w. Die Rede, die man in jeder Zeitung nachlesen kann, so daß ich sie hier ganz übergehe, ward mindestens hundertmal von Beifallsstürmen und unzähligen „Hört! Hört!“ unterbrochen. Er war schwach in seinen Argumenten und schwach in seiner Verurtheilung des Chinawahlfiebers und Palmerston’s, aber in seinem Behaben gegen Intrigue und Feinde ein nobler, tapferer, alter kleiner Herr. Er setzte sich unter allgemeinem Beifallssturme nieder. Alle diese Ehre theilte er mit Rothschild, der nach ihm auftrat und sich für Palmerston erklärte. Die andern Candidaten wurden weniger beachtet. Die Sache dauerte ohne besondere Störung, ohne daß ein einziges principiell bedeutendes oder rednerisch schönes und erwärmendes Wort fiel, ein paar Stunden und endigte mit Aufhebung und Zählung von Händen, wonach Russel, Rothschild, Duke und Crawford als Vertreter der City durch „Nomination“ gewählt waren. Der fünfte Candidat Currie hatte die wenigsten erhobenen Hände, so daß seinetwegen gepollt werden mußte. Eine Wahl durch Poll macht die Wahl durch Nomination ungültig, so daß Alles von der Zahl der eingeschriebenen Wählernamen abhängt. Daß die Wähler am folgenden Tage von 8 Uhr Morgens bis 4 Uhr Nachmittags fortwährend zu den Pollschreibern in den Pollbuden gingen und ihre Namen für ihre Vertreter aufschreiben ließen und davon gingen, hat durchaus nichts Dramatisches, in äußerlicher Erscheinung Interessantes, geistig noch weniger, da die Meisten für Russel, den Gegner des Chinaflaggenehrenbombardements, und Rothschild, den Freund der Palmerston’schen Flaggenehrenpolitik, zugleich stimmten. Das einzige Interessante in der Wahlversammlung war Feruk Khan in seiner diamantenblitzenden blauen Robe und der großen, spitzigen Mütze, mit den ruhig funkelnden Augen und dem ungeheuern schwarzen Barte, aus welchem das gelbliche Gesicht und die schwarzen Augen so ruhig und unbewegt hervorschienen, als wäre Alles aus Stein gehauen. Er verzog nie eine Miene. Der Glückliche verstand kein Englisch, sonst hätte er jedenfalls, obgleich Gesandter einer demoralisirten und schwach gewordenen Nation und einer despotischen Regierung, öfter verächtlich lächeln müssen, obgleich dies die wichtigste, die lebhafteste, die interessanteste von allen 654 Wahlen in England, Schottland und Irland war, wenn man die in Kidderminster, der tief und eng im Thale gedrängten Teppichstadt, wo der Pöbel den Palmerston’schen, gewählten Candidaten prügelte und sein Haus ziemlich demolirte, nicht dramatischer finden will.

Blos als der kleine Lord John Nachmittags aus Guildhall unter die Nichtwähler und verunglückten, wahlunfähigen Urwähler und Urwählerinnen auf der Straße heraustrat, wurde es noch einmal auf ein paar Minuten malerisch. Alt und Jung, Weib und Kind, Lumpen und Vatermörder bettelten den kleinen Lord John stürmisch um ’ne Rede an. „A speech! A speech!“ schrie es aus allen Tonarten, nachdem sich der Begrüßungssturm gelegt hatte. Lord John gab ihnen ein kleines Almosen und machte folgende „speech“: – „Was jetzt in Guildhall stattgefunden, hat gezeigt, daß Verleumdung nicht wirkte. Ich hege das Vertrauen, daß die Poll morgen noch deutlicher die wirkliche Gesinnung der Wähler Londons bekunden wird, und ihr, die ihr Nichtwähler seid, werdet wohlthun, euren Freunden, die wählen, zu einer zahlreichen Einfindung bei der Poll zu rathen.“ – Das war wenig. Aber die Nichtwähler empfingen die kleine Gabe mit jubelndem Danke und gingen dann von selbst auseinander.

In der City hat die Verleumdung und Lüge nicht gesiegt, aber blos der 2000 stimmenden Juden wegen. Im ganzen übrigen Lande ist sie mit wenigen entschiedenen Ausnahmen, z. B. in der Messerstadt Sheffield, siegreich gewesen, so daß, wie selbst die Times sagte, die eigentliche Ehre und Kraft des vorigen Parlaments außerhalb des neuen Parlaments fallen und das neue Parlament als eine Frucht der Unwahrheit, der Verleumdung und des pfiffigen Schwindels falscher Vorwände dastehen wird.




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Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 228. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_228.jpg&oldid=- (Version vom 26.12.2022)