verschiedene: Die Gartenlaube (1857) | |
|
„Aber nicht die Heimath, mein theures Kind, nicht die schöne Heimath. Sie müssen wir, sie mußt Du, wenn Du Dein Schicksal an das meinige schließest, verlassen und meiden für immer. Sie ist uns verschlossen mit allen ihren süßen Erinnerungen der Vergangenheit, der Kindheit, der Jugend, mit allen schönen und stolzen Plänen der Zukunft. Wir haben keine Heimath, kein Vaterland mehr; keine Freunde, keine Verwandten, keine Geschwister. – O, meine Mutter, meine arme Mutter!“
Der junge Mann sprach diese letzten Worte mit einem plötzlichen, sehr heftigen Schmerz. Das Mädchen nahm seine beiden Hände und drückte sie an ihr Herz.
„Nein, nein, Eduard,“ sagte sie mit der innigsten, süßesten Stimme. „Schlage Dir den traurigen Gedanken aus dem Sinne. Sei glücklich an meiner Seite, ich bin es ja auch. Wir werden ganz glücklich werden; wir haben ja uns. Und wer weiß, diese Verfolgungen können doch nicht ewig dauern. Gewiß, vielleicht schon bald, wird uns die Heimath wieder offen stehen.“
„Nie, nie! Der Haß ist zu groß; noch größer ist die Furcht.“
Zum Teufel, wer war dieser Mensch, der mit solchem Selbstbewußtsein von dem Hasse der Fürsten gegen ihn, sogar von einer Furcht vor ihm sprechen konnte? Ich suchte nochmals alle meine Steckbriefregister, alle meine übrigen politischen und nicht politischen Erinnerungen der letzten Jahre durch. Vergeblich. Aber ein anderer Gedanke stieg plötzlich in mir auf. Wie, wenn hier ein blutjunges, unerfahrenes, kränkliches, leichtgläubiges Mädchen die Beute eines nichtswürdigen Abenteurers werden sollte? Wir befanden uns in einem Bade. Das Mädchen war die einzige Tochter eines reichen Vaters, der nach ihren eigenen Worten sie mit ungewöhnlicher, väterlicher Zärtlichkeit liebte. Der Bursch hatte sich hier unter der Maske eines verfolgten, unglücklichen, edlen und natürlich nebenbei reichen, politischen Flüchtlings in das reine und arglose Herz hineingestohlen.
Ich wurde unruhig. Es war mir, als wenn ich zuspringen, den Menschen ergreifen und der Polizei überliefern müsse. Aber wenn ich mir dann das schöne, zarte, leidende Kind an seiner Seite, mit ihrer innigen, tiefen, ihr ganzes Herz erfüllenden Liebe ansah – mein plötzlicher Anblick schon hätte ihr den Tod geben können; ein Ergreifen, ein Entlarven des Geliebten hätte ihr das Herz nothwendig brechen müssen. Teufel, Sentimentalität hat nie meine schwache Seite sein dürfen, aber ich hatte dem armen Wesen gegenüber nicht einmal den Muth, mich zu rühren. War der Bursch ein Betrüger, so erfuhr sie es noch immer zu früh und sie lebte und liebte dann doch bis dahin. –
Eine ältere Dame nahete sich den Liebenden. Ich hatte sie bisher nicht gesehen.
„Es ist Zeit, daß wir aufbrechen,“ sagte sie. „Es fängt schon an, frisch im Thale zu werden, und Ottilie darf sich der Abendkühle nicht aussetzen.“
„Schon?“ rief das Mädchen traurig.
Und der junge Mann sprach dasselbe Wort ebenso herzlich und traurig aus. Das war entweder ein wirklich unglücklicher und edler Mensch, oder ein vollendeter, heuchlerischer Schuft, der seine Sache aus dem Fundamente verstand.
Sie kehrten nach der Stadt zurück. Ich folgte ihnen, nicht ohne Neugierde, aber nur von weitem, kannte ich auch den jungen Menschen nicht, so konnte er doch mich kennen, und dann mußte er, den die Fürsten fürchteten, den gefürchteten Polizeimann mehr fürchten, als es mir – für das Kind an seiner Seite lieb war. Als sie die Nähe der Stadt erreicht hatten, schlugen sie einen schmalen, menschenleeren Seitenweg ein, wie es schien, absichtlich, um dem Gewühle der Badewelt auszuweichen. Ich schwankte, ob ich ihnen folgen solle. Ich interessirte mich für die jungen Leute; aber ich wollte nicht von ihnen gesehen werden. Und am Ende, was gingen sie mich an?
Ich ließ sie gehen, warf mich mitten in das Gewühl der Badegäste hinein, begegnete der vornehmen und strengen Madame Meier aus Hamburg, die mir einen verächtlichen, dann der Sonnette dichtenden Madame Meier, die mir einen zärtlichen Blick zuwarf, hörte darauf einen jungen Herrn mit großem Augenkneifer hinter mir lachen: der Meiernarr, enteilte dem Gewühl und zog nach einiger Zeit, während es schon dämmerte, an der Hausglocke bei der Oberstin Wüsthof. Sie war zu Hause; ich ließ mich unter meinem richtigen Namen bei ihr anmelden.
Die Oberstin, seit mehreren Jahren Wittwe, war eine sehr liebenswürdige, gebildete und herzlich brave Frau. Ich kannte sie lange und war schon mit ihrem Manne befreundet gewesen. Nach seinem Tode war ich noch näher mit ihr bekannt geworden durch manchen Dienst, den ich ihr erweisen konnte. Um so mehr mußte es mich verwundern, daß sie mich mit einer Unruhe und Zurückhaltung empfing, die sie vergebens zu verbergen suchte.
„Sind Sie schon lange hier?“
„Seit vorgestern.“
„Ich habe doch Ihren Namen nicht in der Badeliste gefunden.“
„Ich bin unter einem fremden Namen hier.“
„Ha, in geheimen Angelegenheiten!“
Sie wurde auffallend unruhiger, sie sah mich mißtrauisch von der Seite an. Was war das?
„Gewissermaßen,“ bejahete ich. „Zugleich in einer recht unangenehmen.“
Sie wurde auf einmal fast leichenblaß. Ich sann vergebens über einen Grund dieser Beunruhigung und selbst Angst nach, und glaubte in der That zuletzt, sie müsse körperlich unwohl sein.
„Sind sie nicht wohl, gnädige Frau?“
„Nicht ganz.“
„Befehlen Sie, daß ich Sie verlasse?“
„Nein, nein!“ rief sie fast heftig. „Bleiben Sie.“
Sie that sich dann Gewalt an, um ruhiger zu erscheinen.
„Sie sind in einer geheimen politischen Mission hier,“ sagte sie scherzend.
Aber der Scherz war so erzwungen und hörte sich so ängstlich an, daß die brave Frau mir leid that. Mochte sie auf dem Herzen haben, was sie wollte, ich mußte sie wenigstens in Beziehung auf mich beruhigen. Wie sehr sollte ich das Gegentheil erreichen! In welche Unruhe sollte ich zugleich mich selbst versetzen!
„Meine Mission ist durchaus keine politische,“ erwiderte ich ihr. „Ich suche nur einen Spitzbuben, freilich einen sehr gefährlichen, wie es scheint.“
Ihr wurde leichter um das Herz.
„Wie es scheint, sagen Sie?“ fragte sie. „Sie kennen ihn also noch nicht?“
„Ich weiß noch nichts von ihm; ich suche hier erst zu erfahren, wer er ist.“
„Das klingt ja beinahe räthselhaft. Darf man Näheres, über das Räthsel erfahren?“
„Sie kennen den Kaufmann B.?“
„Gewiß, ein tüchtiger junger Mann.“
„Ihm ist sein ganzes Vermögen gestohlen, zwanzigtausend Thaler. Er ist ruinirt, wenn er das Seinige nicht wieder erhält.“
„Mein, Gott, wie hat er können so bestohlen werden?“
„Er hatte seinen Geschäftsreisenden mit der Summe nach der Provinz geschickt. In einem Eisenbahncoupé wird dem jungen Mann, während er schläft, das Geld von seinem Körper gestohlen.“
„Und der Dieb?“
„Die That ist unter eigenthümlichen Umständen verübt. Der junge Mann befand sich in dem Coupé allein mit einem andern Reisenden, den er nicht kannte, der aber ein unverdächtiges Aeußere hatte. Er trug zudem sein Geld wohlverwahrt auf der Brust; ferner mußte es ihm unmöglich erscheinen, daß der Fremde neben ihm während der Fahrt entkommen könne. Er überließ sich daher dem Schlafe. Als er, noch während der Fahrt, erwacht, ist sein Geld und der Fremde fort.“
„Während der Fahrt; wie war das möglich gewesen?“
„Es war möglich gewesen, wenn auch in etwas halsbrechender Weise. Neben dem Coupé war ein anderes Coupé erster Classe, darin hatte ganz allein eine junge Dame gesessen –“
„Um Gotteswillen!“
„Was ist Ihnen, gnädige Frau, Sie werden so blaß?“
„Fahren Sie fort.“
„Soll ich nicht Ihre Kammerjungfer rufen?“
verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 218. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_218.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)