verschiedene: Die Gartenlaube (1857) | |
|
Aus Graubünden.
Wenn der Sommer naht, dann rüstet sich die fashionable, lebensmüde und weltschmerzkranke Welt zur Reise, um bald in den Bädern den Salon-, Börsen-, Bureau- und Comptoirstaub abzuspülen, bald in der einfachen, großartigen Natur die Gebilde menschlicher und gesellschaftlicher Uebercultur auf einige Wochen zu vergessen. Doch dies ist nicht so leicht, als man glaubt, denn überall, wohin der Strom der Reisenden sich wälzt, folgt ihm auch jener blasirte Comfort, und macht sich in wohl eingerichteten Hotels und bengelhaften Kellnern breit. So ist es gekommen, daß viele Routen der Schweiz dem Naturfreunde nachgerade ganz verleidet worden sind, jene „Gänsestriche“ nach Karl Vogt, auf denen während der Reisezeit die Schaar der Touristen sich bewegt, immer denselben Weg einschlagend und verfolgend, bis der „rothe Baedeker“ in der Hand ihnen zuruft: „Nun ist’s Zeit zu halten, hier muß Das und Jenes bewundert werden“, und Alle auch gut gedrillt wie auf Commando ihren Empfindungen im bewundernden Ach und O Ausdruck geben. Ziehe nur, lieber Leser, außer mancher ähnlichen Route, von Altorf das Reußthal bis Andermatt hinauf, dann über die Furka, den Rhonegletscher, die Grimsel nach dem Haslithale, und bald wird es Dir an den überfüllten, durch telegraphische Depesche bestellten Zimmern der Hotels, ihren in mehreren Sprachen conversirenden Kellnern, den unverschämten Gasthofsrechnungen, den an verschiedenen Punkten aufgestellten, den Kuhreihen blasenden Schweizerbengeln und dem für jede Kleinigkeit unverschämt forderndem Gesindel zur Genüge klar werden, daß Du auf einen „Gänsestrich“ gerathen bist. Du hast nicht nöthig, Dir irgend eine Notiz zu machen und so den Naturgenuß noch mehr abzublassen, gib Dich ihm ganz hin, wenn Du es vermagst, jedes Jahr wird Deine Reise mit allen ihren Einzelnheiten von so und so viel Touristen beschrieben, in der ersten besten Buchhandlung kannst Du sie sammt allen Empfindungen und Eindrücken für wenige Groschen erhalten.
Willst Du aber auf einige Zeit der „Gesellschaft und ihrem Treiben“ den Rücken kehren, Dich dem unverfälschten Naturgenusse ungestört hingeben, die Alpenwelt in ihrer ganzen Herrlichkeit und Erhabenheit genießen, ihre Bewohner in ureigner Einfachheit und Sitte kennen und lieben lernen, so vermeide alle jene Gänsestriche, gehe
verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 205. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_205.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)