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Seite:Die Gartenlaube (1857) 201.jpg

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

No. 15. 1857.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Auf der Eisenbahn.
Vom Verfasser der „Neuen deutschen Zeitbilder.“
(Fortsetzung.)


Hertel und ich kehrten nach K. zurück. Ersterer, den meine Ankunft und meine Bemühungen sichtlich aufgerichtet hatten, war wieder niedergeschlagener geworden. Mir wurden meine wenigen Hoffnungen immer geringer. Die Wahrheit zu sagen, ich hatte gar keine mehr, als auf irgend einen Zufall, auf mein Glück, das allerdings so oft in ähnlicher Lage mich begünstigt hatte.

Es sollte in der That mich auch jetzt nicht verlassen; es kam in der Gestalt eines hübschen, freundlichen Kindes zu mir. Ich saß conjecturirend, combinirend, träumend auf einer Bank vor dem Wirthshause in K., wo ich die Nacht geblieben war. Ich konnte hier nichts mehr machen, und wollte nach Hause zurückkehren. Ich wartete auf den Eisenbahnzug, der mich zurückführen sollte. Zu meinen Füßen spielte das siebenjährige Töchterchen des Gastwirths; es versuchte, eine große schwarze Haarnadel mit einem Knopfe von glänzender schwarzer Kohle in seinem lockigen Haare zu befestigen, konnte aber nicht damit fertig werden, und ich half ihm dabei. Ohne irgend eine Absicht, mechanisch, wie man mit einem freundlichen Kinde zu plaudern pflegt, fragte ich es, woher es die große, glänzende Nadel habe. Von einer schönen jungen Dame, antwortete es mir, und wie auch Kinder zu plaudern pflegen, erzählte es nun:

Vorgestern hatten zwei Damen in dem Gasthofe logirt; sie waren in dem Wagen des Gastwirths zur Eisenbahn gefahren, hatten die freundliche Kleine, mit der sie viel gespielt, in dem Wagen mit sich genommen, und diese auch auf dem Bahnhofe bis zur Ankunft des Zuges bei sich behalten. Als der Zug angekommen, waren die Damen mit dem Kinde ihm entgegengegangen, und als er gehalten, hatten sie sich nach allen Eisenbahnwagen umgesehen. Auf einmal hatte aus dem Fenster eines Wagens eine junge Dame gerufen: Tante! Tante! – Da ist sie! hatten die beiden Damen erwidert, und waren an den Wagen, wo der Ruf hergekommen, geeilt. In demselben Augenblicke war aus dem nämlichen Coupé, aus welchem die junge Dame gerufen, ein schöner junger Herr gesprungen und hatte sich eilig entfernt. Auch die Erstere hatte den Wagen verlassen und sich laut weinend in die Arme der Tante gestürzt. Diese war sehr erschrocken und hatte gefragt: Aber was fehlt Dir denn, mein Kind? Du siehst ja so sehr blaß aus. Die junge Dame hatte lange vor Weinen nicht antworten können; sie war auch wirklich sehr blaß gewesen und hatte gezittert, so daß die Tante sie kaum hatte halten können. Zuletzt hatte sie der letzteren leise in’s Ohr gesprochen, und nun war die Tante noch mehr erschrocken, daß sie nicht weniger gezittert, wie die junge schöne Dame, die aus dem Eisenbahnwagen gekommen war. Das Kind hatte auch ein paar Worte der jungen Dame verstanden. Kleine Kinder pflegen schärfer zu horchen, als die Polizei. Denke Dir, Tante, hatte sie gesagt, als ich da so allein sitze, kommt auf einmal ein fremder Mensch durch das Fenster. – Allmächtiger Gott, armes Kind! hatte die Tante ausgerufen. Darauf aber schnell die Andere erwidert: Still, still, Tante, um Gotteswillen. Das war Alles, was das Kind gehört hatte. Gleich darauf ward das Zeichen zum Weiterfahren gegeben. Die Tante und ihre Begleiterin waren mit der blassen jungen Dame zusammen eingestiegen, und hatten beinahe vergessen, von dem freundlichen Kinde Abschied zu nehmen. Während sie nun eingestiegen waren, hatte die junge Dame die schwarze Nadel mit dem Knopfe von glänzender Kohle aus ihrem Haar verloren; das Kind hatte sie aufgehoben und ihr zureichen wollen; in dem Augenblicke war aber der Zug abgegangen, und die blasse Dame hatte ihr zugerufen: Behalte sie, mein Kind. – Das war die Erzählung des plaudernden Kindes.

Diese Erzählung hatte eine Ahnung in mir geweckt, die ich anfangs selbst als eine widersinnige, tolle belachte, aber doch nicht los werden konnte, und die mich mehr und mehr, zuletzt fast gespensterhaft packte.

„Wie sah der Herr aus, der aus dem Wagen sprang?“ fragte ich das Kind.

„Es war ein hübscher junger Herr.“

„Trug er einen Bart?“

„Nein, er war ganz glatt im Gesichte.“

Das schlug meine Ahnung nieder; aber nur für einen Moment. Mit neuer Kraft, unwiderstehlich, kehrte sie zurück.

„Wie war er gekleidet?“

„Er trug einen grünen Rock.“

„Keinen Staubmantel?“

„Nein, keinen Mantel.“

„Einen Hut oder eine Mütze?“

„Einen großen, schwarzen, runden Hut.“

Das Alles paßte nicht. Allein je weniger es paßte, desto mehr, desto kräftiger wuchs meine Ahnung, die mir immer weniger toll, weniger widersinnig vorkam.

„Wo blieb der fremde Herr?“ fragte ich weiter.

Das Kind wußte es nicht und hatte nicht weiter auf ihn geachtet. Ich eilte darauf zu dem Vater des Kindes, dem Wirthe.

„Haben in der Nacht von vorgestern auf gestern zwei Damen bei ihnen logirt?“ redete ich diesen an.

„Ja.“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 201. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_201.jpg&oldid=- (Version vom 24.2.2017)