verschiedene: Die Gartenlaube (1857) | |
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No. 9. | 1857. | |
Ich höre trauern euch und klagen,
Daß kalt die Welt und liebeleer,
Und mitleidsvoll muß ich euch fragen:
Habt ihr denn keine Mutter mehr?
Das treue Herz, d’ran ihr geruht,
Den Schooß, d’rin ihr so weich gesessen,
So sicher, wie in Gottes Hut?
Die Mutter seht mit süßen Schauern,
So lange wird die Liebe dauern,
So lang’ ein Mutterherz noch schlägt!
O Mutterherz, du Born der Milde,
Du gottgeweihter, heil’ger Ort,
In dir weilt still die Liebe fort!
Du lebst nur in des Kindes Leben,
Sonnst dich in seiner Freuden Glanz,
Sein Leiden nur macht dich erbeben,
Gequält, gemartert und zerstochen,
Liebst du im herbsten Schmerze noch,
Vom Kinde frevelnd selbst gebrochen,
Im Brechen segnest du es doch!
Seid eigner Schuld ihr euch bewußt,
So lehnt die thränenfeuchten Wangen
An eurer Mutter treue Brust.
Und ist die Mutter euch geschieden,
O glaubt: ihr Herz ließ sie hienieden,
Es hält bei ihrem Kinde Wacht!
Albert Traeger.
Henriette trocknete wirklich zwei Thränen, die über ihre Wangen rannen. Es waren Thränen der Scham, und nicht des Schmerzes.
„Herr Präsident,“ sagte sie mit Würde, „ich war auf Alles gefaßt, selbst auf die Demüthigung, die in Ihrem Benehmen und in Ihren Worten liegt. Daß mich ein gewaltiger Grund trieb, Ihnen meine Bitte auszusprechen, müssen Sie wissen, da Sie mich kennen. Und da ich Sie kenne, weiß ich, daß Sie sich durch das Verfahren gegen den Rendanten an mir rächen wollen.“
„Madame!“
„Vor drei Jahren haben Sie meiner armen Mutter die Pension durch Ihren Einfluß entzogen, jetzt wollen Sie meinen Mann und seinen würdigen Freund verderben. Ich durchschaue Ihren Plan, aber ich zittere nicht, denn heute besitze ich Waffen, um mich zu vertheidigen.“
„Madame, Sie besitzen eine höchst gefährliche Waffe – Ihre Schönheit! Müßte ich mit Ihnen kämpfen, ich würde im voraus überzeugt sein, daß Sie siegten. Die schöne Henriette gehört zu den süßesten Erinnerungen meines Lebens – Madame Bergt ist mir gleichgültig, denn es wird sich für den Präsidenten nicht schicken, daß er der Rival seines Sekretairs ist. Sie sagten, daß mein Einfluß Ihrer Mutter die Pension entzogen habe – dieser Beschuldigung entgegenzutreten verschmähe ich; klagen Sie Ihren leichtsinnigen Vater an, dessen hinterlassene Papiere den Grund zu dem geben, dessen Sie mich beschuldigen.“
„Herr Präsident, verunglimpfen Sie die Ehre eines Todten nicht!“ rief die junge Frau. „Mein Vater war gut und brav, er hat nichts gethan, das ihn und seine Familie beschimpft, es sei denn, daß er so schwach war, aus Freundschaft einen Plan zu verschweigen, den ein gewisser Regierungsrath entworfen hatte, um eine gewisse Mündelkasse mit Sicherheit zu bestehlen. Sie berufen sich auf die hinterlassenen Papiere meines Vaters – auch ich berufe mich darauf! Und nun, Herr Präsident, beginnen Sie Ihr Vernichtungswerk; die schöne Henriette, wie Sie die Tochter Ihres
verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 113. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_113.jpg&oldid=- (Version vom 25.1.2021)