verschiedene: Die Gartenlaube (1857) | |
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Es war am Abend desselben Tages. Die Liebenden saßen beisammen auf dem Sopha in dem Zimmer der Mutter; nur Emma war bei ihnen. Sie erzählten einander aus der traurigen Vergangenheit, ihre Leiden, ihre Drangsale, aber auch ihre Hoffnungen. Sie waren glücklich in der Erinnerung, auch in der Erinnerung an die Leiden.
Emma hörte ihnen still zu. Sie war glücklich mit ihnen. Jene schwarzen Ahnungen, jene ängstlichen Träume schienen aus ihrer Brust völlig verschwunden zu sein.
Die Erinnerung an die vergangenen Tage führte die Liebenden auch auf ihre letzte Trennungsstunde zurück. Sie hatten sich in Königsberg zum letzten Male gesehen.
„Erinnerst Du Dich, Hermann?“ fragte Marie. „Es war gegen sieben Uhr Abends, als wir Abschied von einander nahmen auf eine so lange, so unglückliche Zeit. Mein Vater wohnte damals auf der Klapperwiese, in der Nähe des Philosophendammes. Wie oft hatten wir über die sonderbaren Namen lachen müssen, und auch über die sonderbaren Gestalten mit den hohlen Gesichtern und wüsten Haaren, die immer so tiefsinnig auf dem Philosophendamme umherwandelten, und von denen Jeder ein Kant sein wollte. Wie anders, wie schwer war uns an jenem Abende um’s Herz. Wir suchten uns gegenseitig und uns selber Muth zuzusprechen, die Trennung könne höchstens ein halbes Jahr dauern; es müsse ja nothwendig bald eine bessere Zeit kommen; die furchtbare Schlacht, der Du entgegen gingst, müsse eine glückliche Entscheidung bringen. Aber im tiefen Innern unserer Seele stand dennoch der Unglaube, und wir konnten in unseren Worten keinen Trost finden.“
„Wie Du jede Einzelnheit noch so genau weißt,“ sagte der Major.
„Kann man solche Augenblicke, und überhaupt eine solche Zeit vergessen? Ich muß aber auch aufrichtig sein. Du weißt, ich habe stets gewissenhaft mein Tagebuch geführt.“
„Und Du besitzest es noch?“
„Gewiß.“
„Wir werden uns oft daran erfreuen und erheben. Aber wir haben bisher fast nur von meinen Schicksalen gesprochen, erzähle Du auch nun von Dir.“
„Mein Leben war einfach.“
„Einfach in Leiden –“
„Warum Dich damit betrüben? Und gerade heute, in den ersten Stunden unseres Wiedersehens?“
„Doch Eins hast Du mir noch nicht mitgetheilt, den Grund Deines langen Ausbleibens.“
Marie sann nach. Der Schatten einer schmerzlichen, schreckhaften Erinnerung zog über ihr schönes Gesicht.
„Es war ein trauriger?“ fragte der Major.
„Ein sehr trauriger. Eine der schwersten Stunden, nein, bis jetzt die schwerste Stunde meines Lebens. Aber Du hast Recht, ich darf Dir nichts verhehlen. Ich hatte eine ältere Schwester; Sie hieß Antoinette –“
„Eine Schwester? Ich habe nie von ihr gehört.“
„Mein Vater hatte verboten, auch ihren Namen nur noch zu nennen. Sie sollte seine Tochter, sie sollte meine Schwester nicht mehr sein. So vermied ich auch gegen Dich, von ihr zu sprechen.“
Der Gedanke an sie war auch ein so trauriger. Sie war schon früh das Opfer der Verführung eines Nichtswürdigen geworden, eines französischen Offiziers. Sie hatte mit ihm das väterliche Haus verlassen, und war ihm ohne den Segen des Vaters in die Welt gefolgt. Es war mit ein Grund seines frühen Todes. Wir erfuhren sehr bald, daß der Verführer wegen unehrenhaften Betragens den Abschied erhalten habe, und als Spion und Betrüger umherziehe. Antoinette kehrte nicht zu uns zurück. Später hörten wir nichts weiter von ihr. Unmittelbar vorher, als ich zu Dir abzureisen im Begriffe stand, erhielt ich die Nachricht, daß sie krank und verlassen in einem kleinen Städtchen an der sächsischen Grenze liege. Ich eilte zu ihr, und komme von ihrem Todtenbett. Sie hatte von ihrem Verführer nicht lassen können. Eine wunderbare Gewalt hatte sie an ihn gefesselt, in Noth und Elend. Elend und Gram und Vorwürfe hatten sie aufgezehrt.“
Die Erzählende weinte bei der traurigen Erinnerung. Der Major drückte ihr mitleidig die Hand. Sie sah ihn dankend an. Aber auf einmal bedeckte Leichenblässe ihr Gesicht. Ihr Blick war dem Auge Emma’s begegnet, und sie hatte in einen wie elektrisch zündenden Strahl eines plötzlichen, furchtbaren Mißtrauens getroffen.
Die Generalin trat in das Zimmer; sie war in Feierkleidung. Die gute Dame hätte sofort an dem, freilich damals sehr einfachen Hofe ihrer vormaligen Herrin, und noch immer angebeteten, schönen Königin Louise in Berlin erscheinen können. Auch ihr Gesicht hatte den Ausdruck des Feierlichen und zugleich des Geheimnißvollen. Geheimnißvoll war ihr Walten schon den ganzen Tag seit der Ankunft der Verlobten ihres Sohnes gewesen, wie man freilich auch schon seit vierzehn Tagen hatte beobachten können, daß sie irgend etwas Geheimes vorhabe.
„Meine Kinder,“ sagte sie zu den Liebenden, „ich habe eine recht große Bitte an Euch, die Ihr mir nicht abschlagen dürft. Ich habe mich so lange darauf gefreut, schon seit dem Tage Deiner Ankunft, Hermann; und wie oft schon weit früher; es ist ja einer der Lieblingsgedanken des Mutterherzens.“ Sie sah freundlich lächelnd die Liebenden an. „Und Ihr fragt nicht einmal, worin meine Bitte bestehe? Ein Zeichen, daß Ihr sie errathen habt.“
Sie hatte Recht darin. Der Major wagte nicht, geradezu in die Augen seiner Verlobten zu sehen. Diese hatte verschämt die Augen zu Boden gesenkt.
Auch Emma hatte die Bitte errathen. Sie saß blaß und zitternd da; ihr Blick heftete sich mit einer beinahe fast tödtlichen Angst auf die Verlobte ihres Vetters.
Der Major wollte seiner Mutter antworten. Auf einmal sprang das junge Mädchen auf.
Indische Wassernoth.
Fast in derselben Zeit, in welcher Frankreich im vorigen Jahre von ungeheuern Ueberschwemmungen heimgesucht wurde, litt auch Indien in noch weit ausgedehnterer und verderblicher Art durch beispiellose Wassersnoth. Die großen Ströme dort, der Indus und der Ganges, mit zahlreichen Beiflüssen, traten über ihre Ufer und ergossen sich über das umliegende Land. Der Ganges stieg z. B. in Mirzapur fünfzig Fuß über seinen gewöhnlichen Stand. Die Fluten, die er über das Land ergoß, glichen einem Meere, und sie schwemmten Städte und Dörfer hinweg. Viele Tausende von Menschen fanden ihren Tod; und der Schaden, den die Wasser anrichteten, beträgt viele Hunderte von Millionen Thalern. Eigenthümlich schauerlich war der Anblick, den die überschwemmten Gegenden gewährten, denn man sah in diesem neu entstandenen Meere hier und da einzelne hohe Gebäude, auf Anhöhen ganz kleine Dörfer, an sehr vielen Stellen aber die Kronen hoher Palmen und anderer indischer Bäume hervorragen, während nach allen Richtungen hin Böte fuhren, um Unglückliche wo möglich zu retten, die entweder mit den Fluten selbst kämpften, oder sich auf die Dächer von Gebäuden, auf die Gipfel von Hügeln oder auch auf Bäume geflüchtet hatten. Die Strömung riß Hausgeräthe aller Art, Stücke von Häusern, ja ganze kleine Bambusgebäude mit sich fort. So weit die Ueberschwemmung reichte, wurden die Ernten vernichtet, aber so traurig dies für die Bewohner in der nächsten Zeit sein wird, gilt es doch auch zugleich als Segen für die Zukunft, denn das Wasser setzt eine große Menge Erde ab und führt den Feldern, die dort noch nie, seit sie bebaut worden sind, also seit Tausenden von Jahren, ein Theilchen Dünger empfangen haben, neue Fruchtbarkeit zu, wie ja bekanntlich in Egypten die Ueberschwemmung des Landes durch den Nil auch das einzige Düngemittel ist.
Bei jener grauenhaften Ueberschwemmung in Indien in einer Ausdehnung von vielen Hunderten von Meilen kamen unter herzzerreißenden auch solche Scenen vor, die Verwunderung, wohl gar ein Lächeln zu erregen im Stande waren. Es wimmelt dort bekanntlich von wilden Thieren, Schlangen und anderem Ungeziefer. Alles was lebt, fürchtet den Tod; es vergaßen darum bei dem Herannahen der verderblichen Flut selbst die wildesten Raubthiere ihre Mordsucht und sie dachten an nichts, als an die Rettung
verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 36. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_036.jpg&oldid=- (Version vom 19.7.2020)