verschiedene: Die Gartenlaube (1857) | |
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No. 3. | 1857. | |
Verfehltes Leben.
Der Herr von Rixleben hatte sie eingeladen, sofort zu seiner Mutter nach Harthausen zu kommen. Sie sagte in ihrer Antwort das zu, und wurde seitdem mit heißer Sehnsucht auf Schloß Harthausen erwartet, und zwar nicht blos vom Major; die Generalin, die den einzigen Sohn über Alles liebte, schien der Ankunft der künftigen Schwiegertochter beinahe mit noch mehr Ungeduld zu harren, als er selbst. Diese Ungeduld war zugleich mit einem gewissen geheimnißvollen Wesen verknüpft, als wenn sie eine recht große Ueberraschung beschlossen habe.
Schon waren acht Tage des Monats Mai verstrichen. In den ersten Tagen des Aprils halte der Major die Einladung an seine Braut abgesandt, und in der Mitte desselben – der Postenlauf in Deutschland war damals noch ein langsamer – war ihre Antwort eingegangen, daß sie in den nächsten drei Tagen abzureisen hoffe, daß sie seiner Anweisung gemäß reisen, und ihr Eintreffen in Holzminden ihm von dort aus unmittelbar nach ihrer Ankunft anzeigen werde. Seitdem waren drei Wochen vergangen. Schon seit zehn Tagen hätte die so heiß Ersehnte angelangt sein können, und war noch nicht da; auch keine Zeile war von ihr eingetroffen, durch welche ihr Ausbleiben entschuldigt oder erklärt worden wäre. Man hatte seit jenen letzten wenigen Zeilen, in denen sie ihre nahe Abreise ankündigte, nicht die geringste Nachricht von ihr. Die Bewohner des Schlosses Harthausen befanden sich in großer Unruhe, der Major in einer fast peinlichen. Er stand jeden Morgen schon mit dem Anbruche des Tages auf, kleidete sich rasch an und ging den Weg nach Holzminden hinunter, um dem Boten zu begegnen, der, der Abrede gemäß, unmittelbar nach der Ankunft seiner Braut von dort abgeschickt werden sollte. Spätestens um drei Uhr in der Nacht – zu jener Jahreszeit also schon des Morgens – mußte der Postwagen in Holzminden anlangen, und um vier Uhr spätestens mußte der Bote abgehen können. Die anderthalb Meilen zwischen der Stadt und dem Gute waren auf dem allerdings beschwerlichen Wege, der durch Gebirge und Waldung führte, in zwei bis drittehalb Stunden zurückzulegen. Um sechs oder halb sieben Uhr konnte der Bote in Harthausen sein; um halb sechs, manchmal schon um fünf Uhr, konnte er dem ihm entgegen gehenden Major begegnen. Der Major ging ihm jeden Morgen bis sechs, halb sieben Uhr entgegen; kein Bote begegnete ihm. Getäuscht zurückgekehrt, wartete er noch bis neun, zehn Uhr, bis der tägliche Briefbote aus Holzminden kam; immer vergebens. Der Briefbote gab sein Packet ab; auch dieses brachte keine Zeile von ihr, keine Zeile über sie, und die Unruhe um sie wurde mit jedem Augenblicke peinlicher, für den Major fast unerträglich.
Wieder hatte der Major von Rixleben seine gewöhnliche Morgenwanderung auf dem Wege nach Holzminden angetreten; er hatte schon früh halb fünf Uhr das Schloß verlassen; jetzt war es acht Uhr Morgens und er war noch nicht zurück.
Die Generalin von Rixleben saß mit ihrer Nichte Emma auf der Terrasse an der Rückseite des Schlosses, in der schönen, frischen Morgenluft ihr Frühstück verzehrend. Erstere war eine schöne, alte Dame; ihr Gesicht zeigte große Güte, ihr Benehmen anspruchslose Einfachheit. Ihre Nichte Emma war ein, wenn auch nicht schönes, doch hübsches junges Mädchen von kaum etwas mehr als fünfzehn Jahren, noch mehr Kind als Jungfrau, mit einem frischen Gesichte, mit leicht schmollenden Lippen und mit melancholischen, schwärmerischen Augen.
Die Aussicht von der Schloßterrasse gehörte zu den reizendsten an jenen herrlichen Ufern der Weser. Geradeaus, den Strom hinunter, konnte man weit dessen durch Aecker und Wiesen und Buschwerk sich windenden Lauf verfolgen. Rechts, jenseits des Flusses bedeckten die hohen, dunklen Bäume des Sollingerwaldes weithin sich erstreckende und hoch sich erhebende Berge, die bald keck bis dicht an das Wasser vorsprangen, bald in langen und tiefen Schluchten zurücktraten. Links dehnte sich eine reich bebaute Landschaft aus mit weiten Feldfluren, freundlichen Dörfern, von weißen Wegen und Landstraßen vielfach durchschnitten. Unmittelbar vor der Terrasse lag der wohlerhaltene Schloßgarten.
Die Generalin und ihre Nichte blickten starr in die Gegend hinein, aber sahen nichts von deren Schönheiten. Ihre Augen folgten nur unruhig dem Laufe des Stromes, an dessen linker Seite durch offenes Acker- und Wiesenland der Weg von Holzminden sich zog, weiter unten in einem Gehölze und dann hinter Anhöhen sich verlierend. Die Blicke der Generalin verriethen neben der Unruhe zugleich Besorgniß. Die Unruhe der Nichte schien bald mit einer gewissen hastigen Ungeduld verbunden, bald auf kurze Zeit in einem stillen, wie schmerzlichen Nachsinnen sich zu verlieren. Beide saßen schweigend neben einander. Auf einmal flog die Nichte heftig in die Höhe.
„Da kommt Hermann!“ rief sie, indem ihr Gesicht sich verfärbte.
„Ist er wieder allein?“ fragte die Generalin. „Meine Augen tragen nicht so weit.“
„Es ist Jemand bei ihm.“
verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 33. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_033.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)