verschiedene: Die Gartenlaube (1857) | |
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ruhen, so muß ihre ganze Masse, wie alles Andere nolens volens vorwärts rücken und abwärts rutschen, wenn unten leerer Raum wird und gleichzeitig von oben die Wucht drückt. Und welch’ eine Wucht mag da drücken, wo aus dem ganzen Gebiete die Potenzen von Millionen Kubikklaftern und Milliarden Centnern sich auf einem verhältnißmäßig kleinen Raume concentriren!
Hat man nach vielen Umwegen, Mühen und Gefahren die nächstfolgende Wiese erreicht, so steht man abermals vor einer hohen Wand, aus welcher wiederum hie und da dickflüssige Schiefermaterie hervorquillt, und die geheimnißvoll-tückisch abwärts schleicht.
Hier findet sich der erste Stall, welchen zunächst die Reihe treffen möchte. Aber dennoch wird er kein Raub des Nolla werden, eben so wenig als seine vielen von ihrer Stelle verschwundenen Vorgänger. Denn obgleich die ganze Gegend, Grund und Oberfläche, ohne Unterlaß in abschüssiger Bewegung ist, so geht doch die letztere so langsam und allmälig, so allerwärts in stetigen und gleichmäßigen Proportionen von Statten, daß sie eben wegen dieser Continuität am allerwenigsten von der An- und Bewohnerschaft wahrgenommen wird. Hat also ein Gebäude sein letztes und als solches nun freilich in die Augen springendes Stadium erreicht, so bleibt den Tschappinern allemal noch Zeit genug, um das Material zu retten: sie gehen hin, nehmen die Hölzer auseinander, tragen sie fort und fügen sie an einem andern Orte nach Bedürfniß und Bequemlichkeit wieder zusammen.
Die nun folgende auch nur auf Umwegen zu gewinnende Parthie bietet uns einen Stall und ein bewohntes Haus dar, welche gegen 250 Fuß tiefer als die Kirche liegen mögen, so daß die Bewohner zu sagen haben: „Wir gehen auf zur Kirche.“ Gleichwohl hat man bestimmte Nachricht, daß diese nämlichen Gebäude vor etwa einem Jahrhundert um beinahe eine Viertelstunde höher oben standen und man von dort aus gesagt hat: „Wir gehen ab zur Kirche.“ Ungeachtet ihrer verhängnißvollen Reise und sehr geneigten Stellung werden diese Gebäude von den gesunkenen Enkeln noch eben so benutzt, wie vormals von den erhabenen Urahnen und es zeigen auch die Stockmauern des Hauses keine erheblichen Risse.
So geht es weiter fort, von Terrasse zu Terrasse, nur daß die Zahl derselben nach rechts und links sich fortwährend vermehrt und sie selbst, je höher den Berg hinauf, desto niedriger werden.
Trauriger gestalten sich bei dieser Sachlage von Jahr zu Jahr die Aussichten dieser Berggemeinde; denn die Verwüstung kennt hier keinen Stillstand, und die Befürchtung, daß im Laufe der Jahrhunderte mindestens das ganze Oberdorf in die Peripherie der unheilvollen Bewegung hineingezogen werde, drängt sich an Ort und Stelle unwillkürlich jedem Beschauer auf. Da sollte wohl ein Versuch der Abhülfe gemacht werden, zumal in Anbetracht der weiteren hieran sich knüpfenden Schädigungen, deren wir zuvor gedachten. Aber weil selbst die Kräfte des Kantons hierzu zu schwach waren, so könnte einzig die Eidgenossenschaft helfen, wozu in der That auch nicht jede Hoffnung abgeschnitten ist.
Von Berth. Sigismund.
Gewiß sind unter den tausend Familien, welche in der „Gartenlaube“ sich erholen, nur wenige, die nicht im Winter zuweilen in Verlegenheit gerathen sind, wie sie den Kindern eine anmuthige und geistbildende Erholung bereiten sollen. Das Spielzeug, wenn es auch vom heiligen Christ in reichster Fülle bescheert wurde, läßt endlich gleichgültig; auch der Farbenkasten will nicht fortwährend behagen; die Märchen, welche die Eltern mittheilen können, sind hundert Mal erzählt, so daß, wenn auch nicht der Hörer, doch der Erzähler ihrer überdrüssig wird; die Bilderbücher sind so oft betrachtet und durchgelesen, daß sie allen Reiz verloren haben, und von Garten und Flur, wo die Kinder sich auch ohne Anleitung der Erwachsenen auf der Schnee- und Eisbahn belustigen, kommt die junge Welt nach kurzer Zeit halberfroren nach Hause, um im Zimmer in dem traurigsten Unwohlsein, welches der leidige Winter mit sich bringt, zu leiden, an der Langeweile.
Ich beobachtete diesen unbehaglichen Zustand der Kinder während der rauhen Jahreszeit in so vielen Familienkreisen, daß ich, als mir die freundliche Einladung zukam, mein Scherflein zur Unterhaltung in dieser Zeitschrift für den Familienkreis beizutragen, es nicht für ungeeignet hielt, ein Heilmittel dagegen vorzuschlagen.
Argwöhne der freundliche Leser nicht, daß ich zu diesem Zwecke in diesen Blättern Erzählungen und Naturschilderungen für Kinder einschmuggeln wolle! Was ich mittheile, ist für die Erwachsenen, und nur aus zweiter Hand für die Jugend bestimmt. Unsere jungen Zeitgenossen lesen schon so eher zu viel als zu wenig, und die todten Lettern sind nicht einmal das geeignetste Mittel, um das Kind in die Natur und das Menschenleben einzuführen; sie sind und bleiben nur ein dürftiger Ersatz des lebendigen Wortes. Angeschaut, erzählt und – was die Hauptsache ist – durchgesprochen, und im Zwiegespräch verarbeitet muß das werden, was dem Kinde rechte Freude machen und tiefe Wurzeln in ihm schlagen soll. Frage sich der geneigte Leser selbst, welches Märchen lebendiger in seiner Erinnerung haften geblieben sei, das, welches er gelesen oder eins, welches ihm die Mutter erzählte; prüfe er sich, welche Naturerscheinung er freudiger und gewinnreicher aufgefaßt habe, die, welche er aus Büchern kennen lernte, oder eine andere, welche er an der Hand des Vaters beobachtete und mit diesem durchsprach! Immer fällt der größere Reiz und der höhere geistige Gewinn in die Wagschale des mündlichen Verkehrs; die tiefsten Anregungen, die klarsten Urtheile verdankt das Kind stets dem unmittelbaren geistigen Austausche, wo der Mensch durch das lebendige Wort sich ganz individuell mittheilt und auf die Vorstellungen des Hörers direkt eingeht, um sie zu berichtigen und zu erweitern.
Für solchen geistigen Verkehr des Vaters mit dem Kinde, der die erste, süßeste und segensreichste Schule für das letztere sein soll, will ich auf eine Quelle der Unterhaltung aufmerksam machen, die leider von zu wenig Vätern benutzt wird, obgleich sie eine wahre Labequelle für das Gemüth und eine treffliche Gesundheitsquelle für den Geist ist, ich meine die Betrachtung der Natur. Tausende von Kindern lernen die Natur der Heimath fast nur aus den blassen Schilderungen in Büchern oder aus den gelehrten Erklärungen der Schule kennen, und wie viele wachsen auf, die über höchst oberflächliche sinnliche Anschauung derselben nicht hinauskommen! Und doch könnte jeder Vater, jede Mutter, wenn sie auch nicht in die Wissenschaft tiefer eingeweiht sind, kräftig beitragen, um dem Kinde zu genauer und treuer Auffassung und zu deutender Beurtheilung der Naturerscheinungen zu verhelfen. Was ich hier mittheile, sind Stoffe für die Naturforschung im Familienkreise und wirken zur Ausbeutung derselben. Es sind freilich keine großartigen Naturvorgänge, die ich zur Betrachtung vorschlage, im Gegentheil alltägliche, von vielen Erwachsenen kaum eines Blickes gewürdigte Dinge. Aber so wie ein schlichtes Märchen, das halb vergessen und bestaubt im Gedächtniß schläft, für den Erwachsenen neue Reize bekömmt, wenn er es den Kindern erzählt und bemerkt, wie sie sich daran freuen: so gewinnt man den schlichtesten Naturdingen, an denen man wie vor Trivialitäten achtlos vorüberging, Interesse ab, wenn man sieht, wie das Kind, dem jenes Alltägliche neu ist, sich daran ergötzt, und kaum ein Vater macht mit seinen Kindern einen Spaziergang, auf dem er nicht die Wahrheit der schönen Worte Goethe’s freudig erlebt:
„Nur durch der Jugend frisches Auge mag
Das längst Bekannte neubelebt uns rühren,
Wenn das Erstaunen, das wir längst verschmäht,
Aus Kindesmunde hold uns widerklingt.“
verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 23. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_023.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)