verschiedene: Die Gartenlaube (1857) | |
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No. 2. | 1857. | |
Verfehltes Leben.
„Liebe Therese,“ sagte die Kranke mit einer klaren, milden, freundlichen Stimme, „geben Sie mir Ihre Hand.“
Sie war zu schwach der Freundin die Hand hin zu reichen. Das Mädchen nahm dieselbe sanft, doch sah man zugleich Verwunderung, Freude und Zweifel in ihrem Auge gemischt leuchten.
„Ihre Hand ist warm,“ erwiederte sie, „und Sie sind auch seit einer Viertelstunde so ruhig geworden.“
„Ja, meine Liebe,“ lispelte die Kranke. „Meine Hand ist wieder warm und meine Brust frei. Sie verlassen mich doch nicht? Es ist nur noch eine Viertelstunde.“
„O mein Gott, liebe, theure Marie!“
„Es ist der Tod, der sich mir nahet; ich fühle ihn. Es ist mir so leicht, so frei. Nicht wahr, Sie verlassen mich nicht?“
„Wie könnte ich –?“
„Ich möchte nicht gern so ganz allein sterben. Der liebe Gott wird es Ihnen lohnen, daß Sie bei mir ausharren. Einst –. Aber weinen Sie nicht, Therese, sein Sie freundlich. Ich möchte in dem letzten Augenblicke die schöne Welt so recht schön und freundlich sehen. So, trocknen Sie die Thränen; und nun, wie ist der Himmel draußen?“
„Die Sonne scheint.“
„Und ist die Luft warm?“
„Ungewöhnlich warm heute.“
„Das ist schön, dann sind Sie wohl so freundlich, den Vorhang von dem Fenster zu ziehen.“
Die Freundin stand auf und befreite das Fenster von dem Vorhange. Der blaue Himmel leuchtete, die Sonne schien hell und freundlich in das Zimmer hinein. Draußen unter dem Fenster befand sich ein Aprikosenstock, ein Zweig mit den rothen Blüthen sah durch dasselbe. Die Augen der Kranken wurden glänzender, und die feine Röthe ihres Gesichts lebhafter.
„Die Luft draußen ist warm, sagten Sie, liebe Therese?“
„Sehr schön warm.“
„O, dann öffnen Sie auch das Fenster, damit ich noch einmal die frische, freie Frühlingsluft einathmen kann, den süßen Duft jener Blüthen!“
Die Freundin sah unentschlossen bald auf das Fenster, bald auf die Kranke. Die Kranke bemerkte es.
„Oeffnen Sie nur, Therese, es wird mir nicht mehr schaden.“
Die Freundin öffnete das Fenster. Der blaue Himmel glänzte heller in das Stübchen, die Sonne schien wärmer hinein, die Blüthen des Aprikosenstockes sandten ihren süßesten Duft. Das Aeußere der Kranken belebte sich mehr und mehr; schneller und schneller trat der Tod heran. Ihr Inneres schien in demselben Verhältnisse klarer und ruhiger zu werden; sie ließ voll in ihre Brust die freie, frische Frühlingsluft, den süßen Duft der Blüthen einziehen. Dann fuhr sie mit ihrer freundlichen milden Stimme zu der Freundin fort:
„Falten Sie mir die Hände, Therese; ich will mein letztes Gebet verrichten. Aber weinen Sie nicht, meine Freundin.“
Die Freundin konnte die Thränen kaum noch zurückhalten, die gewaltsam hervordringen wollten, aber nur unter Zittern konnte sie die Hände der Sterbenden falten. Die Sterbende betete still, und die Freundin mit ihr. Das Gebet war beendet.
„Und nun, meine liebe Freundin, meine letzte Bitte an Sie. Oeffnen Sie meinen Koffer dort. Rechts in ihm werden Sie ein kleines Mahagonikästchen finden. Der Schlüssel steckt darin. Schließen Sie es auf. Ganz oben liegt ein Brief, den nehmen Sie und setzen sich damit dicht an das Bett, recht dicht zu mir, und lesen ihn mir vor. Während des Vorlesens werde ich einschlafen, mit dem Gedanken an ihn, bis zur Wiedervereinigung mit ihm. O, drüben gibt es ja keine Zeit!“
In einer Ecke des Stübchens stand ein Reisekoffer, den die Freundin öffnete. Sie fand das Kästchen und schloß es auf. Es lagen nur Briefe darin. Den obersten nahm sie heraus und setzte sich damit an das Bette der Sterbenden, dicht vor diese.
Mit der Kranken war unterdeß eine Veränderung vorgegangen. Aus ihrem Gesichte war plötzlich alle Röthe gewichen; die Leichenfarbe lag darauf, aber eine außerordentlich weiße, klare, durchsichtige. Die Augen waren größer geworden, fast geisterhaft groß; ihr Glanz war noch da, aber er schien ein völlig überirdischer zu sein. Der Tod stand an dem Bette. Nur noch wenige Minuten, und er hatte hier sein Werk vollbracht.
Die Freundin entfaltete den Brief und las:
„Meine liebe Marie! Wie vielen Schmerz und wie viele Freude hat mir Dein Brief gebracht. Ich habe mich lange sammeln müssen, ehe ich Dir antworten kann. Ich mußte es auch, als ich Deinen Brief erhielt, als ich Deine theuern Schriftzüge in meinen Händen hatte, zum ersten Male wieder seit Jahren. Du lebtest noch, das war gewiß. Du liebtest mich noch, auch das war gewiß, denn Du lebtest ja. Aber gehörtest Du noch mir? Warst Du noch mein? Du warst es, Du bist es. Du bist es geblieben in allen Deinen Drangsalen, in allen Deinen Leiden. Und wieviel, wie schwer hast Du gelitten! Mit welcher Geduld, mit welcher Ergebung, mit welcher wahren Seelengröße! Wie
verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 17. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_017.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)