Verschiedene: Die Gartenlaube (1855) | |
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sonst sehr gelobt und anerkannt wird, nicht gering ist. Die neulich von der Times gemachte Aeußerung: „Raisonneure und Unzufriedene gäbe es überall; aber vielleicht seien sie in keinem Corps in so geringer Anzahl vorhanden, als in der britisch-deutschen Legion“ beruht wirklich nicht ganz auf Wahrheit. Der Unmuth macht sich sehr häufig in Witzreden Luft; als Probe davon führe ich Ihnen an, daß der Soldat die glänzenden Buchstaben B. F. L., welche auf allen Knöpfen und an Mütze und Czako prangen, nicht als das officielle „British Foreign Legion“, sondern als „Betrogene Fremde Leute“ deutet.
So ist denn leicht zu begreifen, daß die Desertionen hierorts weit häufiger vorkommen, als von Helgoland aus. Dieselben stehen wirklich in gar keinem Verhältnisse zu einander. Kurz vor meiner Ankunft war sogar eine ganze Patrouille, etwa 35 bis 40 Mann, mit einem Lieutenant vom ersten Jägerregiment an der Spitze, durchgebrannt oder ausgerückt, um mich eines soldatisch-technischen Ausdrucks zu bedienen. Wenige Tage, nachdem ich hierher gekommen, desertirten drei Lieutenants vom 3. leichten Infanterieregimente. Von Desertionen der Gemeinen hört man sehr häufig, jedoch muß ich wieder bemerken, daß bei dem zweiten Infanterieregimente die Desertionen sehr selten sind. In den benachbarten Orten treiben sich sehr viel Seelenverkäufer umher, welche die Soldaten zur Desertion verleiten, um sie für holländische Dienste anzuwerben. Bei den nahen Beziehungen, in welchen der Hof zu Haag zu dem zu Petersburg steht, könnte man versucht werden, an russischen Einfluß zu denken. Indeß muß man erwägen, daß Holland für den Dienst in Ostindien, der sehr viel Leute verschluckt, stets geworben hat. Jenen Werbern wird von hier aus natürlich eifrig nachgespürt und ihre Aufbringung wird mit Prämien honorirt. Aber es gehen weit mehr Soldaten durch, als Werber eingefangen werden. In Betreff der drei Lieutenants vom 3. Regimente, von denen ich Ihnen oben schrieb, kann ich Ihnen noch mittheilen, daß dieselben in London eingefangen sind.
Nach dem, was ich oben schrieb, wird man auch leicht begreifen, daß sehr viele Vorgesetzte bei den Soldaten nicht absonderlich gut angeschrieben sind. Wenn nun auch Verbal- oder gar Realinjurien gegen dieselben fast gar nicht vorkommen, so ging doch eines Tages die Rede, daß nach dem Feldwebel der 6. Kompagnie des 2. Infanterieregiments, Kaiser, eine als berliner Polizist früher nicht unbekannte Größe, von einem Soldaten der 6. Kompagnie geschossen worden sei. Die Sache reducirt sich nun freilich ganz einfach darauf, daß Kaiser, während die Kompagnie ein blindes Feuer unterhielt, unvorsichtig vor die Fronte derselben trat, und so ziemlich dicht vor den Gewehrmündungen durch einen Pfropfen an dem einen Arme gestreift wurde. Man kann aber aus dem Umstande, daß jenes Gerücht leicht vielseitigen Glauben fand, auf die Stimmung im Allgemeinen schließen. Uebrigens ist die Unzufriedenheit ächt deutscher Natur. Wenn die Leute eben von Klagen überfließen über den Betrug, der ihnen angeblich gespielt sein soll, und ihre Vorgesetzten zu allen Teufeln wünschen, so hallen doch im nächsten Augenblicke die Lüfte von den loyalsten Vivats wieder.
Die hölzernen Baraken, in welchen hier im Lager die Soldaten liegen, fassen je 25 Mann. Der Raum in ihnen ist ziemlich beschränkt, so schmal auch die einzelnen Bettstellen sind. Letztere waren auf Helgoland breiter und bequemer. An sonstigem Mobiliar hat jede Barake zwei bis drei Tische. Seine wenige Habe, die der Soldat nicht immer in den Tornister oder Brotbeutel stecken kann, muß er auf dem sich an beiden Längeseiten der Barake befindlichen Gesims über seinem Bette verwahren. Die Wände der Küchen wie die der Kantinen sind ganz von Eisenblech. Letztere, deren Einrichtung auf Helgoland höchst unangenehm war, muß man in Betreff der darin herrschenden Reinlichkeit und im Interesse der Sittlichkeit loben. Jedes Privet ist abgesondert für sich, was auf Helgoland nicht der Fall war.
Durch das fortwährende Regenwetter ist das Lager fast zu einer großen Pfütze geworden. Für die Instandsetzung der Wege ist namentlich, wo das 2. Regiment liegt, noch gar nichts geschehen, was für den Soldaten um so schlimmer ist, da in Betreff der Sauberkeit seines Anzuges doch immer gewisse Ansprüche an ihn gemacht werden. Die Unannehmlichkeit des Schmutzes wird noch erhöht durch die furchtbare Finsterniß, welche des Abends im Lager herrscht. Freilich befinden sich zur Befestigung von Laternen an den geeigneten Stellen längst die eisernen Arme, aber die Laternen lassen noch immer auf sich warten.
Mit dem 1. Infanterie-Regimente ist auch der Feldprediger, welcher der ersten Brigade beigegeben ist, von hier fortgegangen. Bis dahin war, wenn es das Wetter irgend erlaubte, jeden Sonntag Kirchenparade. Der Feldprediger besuchte auch wöchentlich regelmäßig die Hospitäler der einzelnen Regimenter, und gab den Kranken die Schillingsbücher des „Rauhen Hauses“ zu Hamburg, sowie, was Vielen gewiß willkommener war, auch die berliner Vossische Zeitung und die Indépendance belge zum Lesen. In jedem Hospitale befinden sich zwei deutsche Bibeln zum Gebrauch für die Kranken. Sehr viele Soldaten haben sich dabei auf eigene Kosten die Stereotypausgabe des neuen Testaments der britischen und ausländischen Bibelgesellschaft zu London angeschafft. Ein Exemplar kostet sechs Pence. Angeboten werden sie im Lager von Umherträgern, gerade wie Brot, Butter, Käse, Eier und andere Sachen, genugsam. Es macht einen eigenen Eindruck, diese Bücher oft in den Händen solcher zu sehen, deren Mund sonst von Gemeinheiten überfließt. Die praktischen Leute haben sich kleine Lehrbücher der englischen Sprache angeschafft. Leider hat man aber zum Studiren nur zu wenig Zeit, und ungestört ist man fast nie. Sonst ist hier an gute deutsche Lektüre nicht zu denken. Vielleicht würde eine deutsche Leihbibliothek von nur mäßigem Umfange in Sandgate ganz gut rentiren. Die sehr unvollkommene Leihbibliothek auf Helgoland wenigstens erfreute sich bei den Soldaten eines sehr guten Zuspruchs, und konnte durch den oft raschen Abgang mancher Leser nicht leicht zu Schaden kommen, da der Bibliothekar, so unkultivirt er sonst war, doch die Schlauheit besaß, kein Buch ohne einen Einsatz von einem Thaler Courant zu verleihen.
Die Witterung ist übrigens schon sehr empfindlich, und man muß stark heitzen, um die Baraken nur einigermaßen warm zu erhalten. Vielen wird deshalb die Uebersiedlung nach einem südlichern Klima sehr erwünscht. Soldaten sowohl als Offiziere erfahren jedoch vorher nichts Gewisses darüber. In Ermangelung positiver Nachrichten wimmelt es daher auch von Gerüchten, deren eines in der Regel noch unsinniger ist als das andere. So wurde kürzlich als ganz bestimmt versichert, daß zwischen den Alliirten und Rußland ein Waffenstillstand bis zum Mai künftigen Jahres abgeschlossen sei; dann hieß es wieder, Preußen und Oesterreich hätten den Westmächten den Krieg erklärt; zuletzt kam gar noch die Nachricht, daß in Berlin eine große Revolution ausgebrochen sei. Mancher Betheiligte wurde durch das Gerücht beunruhigt, die dänische Regierung habe diejenigen ihrer Unterthanen, welche in die Fremdenlegion getreten, reklamirt; eine allgemeine Sensation wurde aber durch das Gerede hervorgerufen, Rußland würde die Legionäre nicht als Kriegsgefangene vom englischen Heere betrachten, sondern dieselben einfach an ihre betreffenden Regierungen ausliefern. Manchem, wie z. B. mir, könnte diese Eventualität durchaus nicht in einem unangenehmen Lichte erscheinen; indessen möchte manchem Legionär das Wiedersehen ihrer Heimath vor dem Ablauf gewisser Verjährungsfristen wohl nicht gerade willkommen sein. Das letztgenannte Gerücht hat noch am Meisten einen Anstrich von Glaubwürdigkeit, der jedoch bei näherer Betrachtung verschwinden muß. Trotzdem, daß eins jener Gerüchte stets das andere verdrängt, und noch niemals eins sich als wahr erwiesen hat, findet doch die Fama hier ihre Gläubigen schaarenweis, und ich armer Teufel habe ob meiner skeptischen Natur deshalb viel zu erdulden.
Trotzdem, wie ich sagte, die Witterung jetzt schon ziemlich rauh ist, stellt sich das Verhältniß der Kranken zu den Gesunden doch durchaus nicht ungünstig heraus. Mehr als 4 bis 5 Prozent Kranke sind nicht vorhanden, Todesfälle sind, so lange ich hier bin und so viel mir bekannt ist, mit Ausnahme eines einzigen, gar nicht vorgekommen. Das Lagerleben selbst hat gewiß noch keine Krankheiten erzeugt, namentlich keine Spur von Epidemien (ich berücksichtige da bei aber nicht den verflossenen Sommer).
Eine bedenkliche Folge hat die hier herrschende Theuerung, verbunden mit der Unregelmäßigkeit in der Auszahlung des Soldes, von der ich oben sprach, bereits gehabt. Die meisten Soldaten finden durchaus nichts darin, mancherlei Gegenstände, namentlich Kartoffeln, Kohlen, Holz etc., wo sie dieselben nur antreffen, an sich zu nehmen, und in ihrem Nutzen zu verwenden. In der Soldatensprache wird dieses Verfahren „Punktiren“ genannt; die gewöhnliche Sprache wird freilich kein anderes Wort als Stehlen dafür haben. Auch hat es bei den genannten Gegenständen noch nicht
Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 656. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_656.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2023)