Verschiedene: Die Gartenlaube (1855) | |
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Populäre Briefe über Musik.
Lieber Herr Musikkennerwerdenwollender – es geht nicht! – ganz ohne Noten! Lassen wir also die armen Typen zu; sie sollen selten erscheinen, und dann auch dem Nichtnotenkenner das Verständniß erleichtern helfen.
Betrachten Sie also folgende Melodie, die Sie gar oft in der Weber’schen Freischütz-Ouvertüre gehört haben.
Die kleinen durch senkrechte Striche abgetheilten Räume sind Takte; die darüber stehenden Zahlen sagen Ihnen, daß diese Melodie, aus sechzehn aneinander gereihten Takten zusammengesetzt ist.
Den Noteninhalt jedes Taktes, auch die Pausen mit gerechnet, nenne ich Motiv. (Man bezeichnet mit diesem Wort freilich oft auch eine ganze Melodie; dann aber auch wieder bald nur einen Takt, bald zwei, drei, vier u. s. w., dadurch wird der Sinn unsicher und es können Mißverständnisse herbeigeführt werden.)
Aber warum Motiv? Motiv heißt Ursache? Eben darum. – Solche kleine Dinger werden Ursache zu sehr großen Dingen, zu ganzen Tonstücken.
Zwei Motive verbunden, geben einen Abschnitt; also machen 1–2 den ersten, 3–4 den zweiten, 5–6 den dritten Abschnitt u. s. w. Zwei Abschnitte oder vier Motive bilden einen Satz; also 1–2–3–4 erster Satz, 5–6–7–8 zweiter Satz u. s. w. Zwei Sätze geben eine einfache Periode, zwei einfache Perioden eine zusammengesetzte Periode oder Periodengruppe.
Wir können die vorstehende Melodie vom Ganzen zum Einzelnen gehend nun auch so erklären: sie besteht aus zwei einfachen Perioden, oder vier Sätzen, oder acht Abschnitten, oder sechzehn Motiven.
Hat ein Motiv (der Inhalt eines Taktes) nur eine, die größte Note der bezüglichen Taktart, so ist es ein einfaches Motiv; alle Motive, die mehr als eine Note haben, sind zusammengesetzte. Alle zusammengesetzten Motive kann man wieder theilen; daraus entstehen Motivglieder. Sie werden in der Folge sehen, daß auch diese kleinsten oft ganz unscheinbar aussehenden Tongedanken Ursachen zu ganzen Melodien werden.
Wenn Sie einen Trommelmarsch hören, so vernehmen Sie nur in Takte eingetheilte Schalle mit Längen und Kürzen, keine verschiedenen, nach Höhe und Tiefe unterscheidbaren Töne. Die Takte enthalten nur rhythmische Motive. So können Sie z. B. jede Melodie blos rhythmisch mit den Fingern auf dem Tische trommeln. In der ordentlichen Musik hören Sie neben der Rhythmik auch steigende oder fallende Töne dazu, und das ist der tonische Theil der Motive.
Nun folgen Sie mir zunächst bei der Betrachtnug der Weber’schen Melodie in Hinsicht auf die rhythmische Gestalt der Motive. Da bemerken Sie sogleich, daß das 3te, 5te, 6ste, 9te, 11te, 13te, und 14te dem ersten ganz gleich sind. Und ebenso 4, 10 und 12 dem Zweiten. Nur das 7te, 8te, 15te und 16te haben keine ihres Gleichen in dieser Melodie.
Fassen Sie das siebente Motiv noch einmal besonders in’s Auge und blicken Sie auf die beiden darunter stehenden größeren Bogen, so sehen Sie, daß sich die beiden Motivglieder gleich sind. Endlich wenn wir recht subtil beobachten wollen, können wir noch eine sehr oft wiederkehrende Gleichheit des kleinsten Motivgliedes unter den kleineren Bogen von a, b, c bis k bemerken.
Vergleichen Sie die Abschnitte untereinander, so sehen Sie, daß der erste (1–2), der zweite (3–4), der fünfte (9–10) und der sechste (11–12) sich rhythmisch ganz gleich sind, ferner der dritte (5–6) und siebente (13–14), und daß wieder der dritte und der siebente das erste Motiv des ersten Abschnittes enthalten.
Vergleichen Sie endlich beide Perioden in ihren rhythmischen Figuren mit einander, so sehen Sie, daß die ersten sechs Takte der ersten Periode in den ersten sechs Takten der zweiten Periode in ganz gleicher Weise wieder erscheinen! Sie begreifen nun, daß diese Melodie, durch die öftere Wiederkehr gleicher rhythmischer Motive, Abschnitte, Sätze und durch die beinahe ganz gleiche rhythmische Gestalt beider Perioden einen sehr festen, einfachen geordneten und klaren rhythmischen Organismus erhalten hat. Und das ist die erste Ursache, warum Sie diese Melodie leicht auffassen und leicht im Gedächtniß behalten.
Sehen wir nun von der rhythmischen Gestalt und Gliederung ab und richten unsere Beobachtung auf das tonische Aussehen (auf das Steigen und Fallen der Töne) dieser Melodie, so entdecken wir darin dasselbe Gesetz, wenn auch nicht in so strenger Weise der öftern Gleichheit, doch der mehr oder weniger hervortretenden Aehnlichkeit. Das erste, sechste, neunte und vierzehnte Motiv sind sich auch tonisch ganz gleich; das dreizehnte ist dasselbe wie das fünfte. Diese Beiden sind auch wieder im Steigen und Fallen der Töne dem ersten ganz gleich, nur daß sie in einer höhern Tonregion liegen.
Ferner ist das dritte dem ersten sehr ähnlich, denn die beiden ersten Noten desselben fallen eben so wie in jenem, aber in tieferer Region, und nur die beiden letzten Achtel steigen, anstatt daß sie fallen sollten.
Suchen Sie die tonische Gleichheit und Aehnlichkeit nun weiter selbst in den Abschnitten, Sätzen und Perioden auf, und Sie werden dieselbe Bezüglichkeit, Gleichheit und Aehnlichkeit wieder finden. Also auch in tonischer Hinsicht, Einfachheit, Klarheit und Faßlichkeit der Bildung.
Nun wollen wir, um ein anderes Merkmal an dieser Melodie zu erkennen, ein Experiment machen. Singen Sie von derselben nur den ersten Takt und halten Sie mit der Fortsetzung ein. – Was empfinden Sie? – Nichtbefriedigung. Es ist Ihnen, als begönne einer: „Wie traulich“ – zu recitiren und bräche dann ab. – Es wird durch diese beiden Worte ein Sinn begonnen, aber nicht vollendet. Singen Sie zu dem ersten Motiv noch das zweite, also den ersten Abschnitt, so kommt zwar noch keine Befriedigung, aber doch schon etwas mehr Sinn zum Vorschein, etwa als wenn wir an die beiden obigen Worte das weitere fügten: „Wie traulich hier.“ Singen Sie zu dem ersten Abschnitt der Melodie den zweiten, also einen Satz, so wird die Sache wieder um etwas bestimmter, ähnlich: „Wie traulich hier im schatt’gen Wald.“
In dieser Weise fortfahrend, stellt sich mit dem achten Takt, am Ende der ersten Periode, das Gefühl einer bedeutenderen Abtheilung, einer Art Ruhepunktes ein, und endlich, beim Vortrag der ganzen Melodie, empfinden Sie beim Eintritt des letzten Tones das vollkommene Aussein des Tongedankens.
Die Musik hat nämlich einige melodische und harmonische Formeln, deren Wirkung Aehnlichkeit mit der Interpunktion in der Rede hat; vom siebenten zum achten Takte erscheint eine etwa dem Semikolon vergleichbare Folge, welche man Halbschluß (Halbkadenz) nennt; die Tonformel am Ende der ganzen Melodie entspricht dem Punkte am Ende der Redeperiode und heißt Ganzschluß (Hauptkadenz). Jener bildet Ruhepunkte, läßt aber das Gefühl, daß die Musik hier aufhören könnte, nicht zu. Dieser dagegen beruhigt ganz, und man kann das Stück damit schließen.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 648. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_648.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2023)