Verschiedene: Die Gartenlaube (1855) | |
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sein, und das rechte Kind, erst verstoßen, nun auch wohl bald vergessen werden würde. „Der kleine Wurm sei der wirkliche Abgott im Hause geworden und werde förmlich angebetet.“
„Ich wollte zu Gott, der Balg stürbe,“ murmelte Lisbeth zwischen den fest zusammengebissenen Zähnen durch, und eine bittere Thräne des Unmuths und Hasses füllte ihre sonst so klaren Augen. Hatte sie vorher ihre Stiefmutter gehaßt, so war dies böse Gefühl durch die Geburt des Kindes womöglich noch gesteigert worden, und fand nur neue Nahrung in dem Dasein des kleinen unschuldigen Wesens.
So vergingen mehrere Wochen. Lisbeth hatte in der Zeit keine weitere Nachricht von zu Hause erhalten, als plötzlich ein Brief eintraf, der ihr den rasch erfolgten Tod des Kindes meldete. Die Nachricht traf sie wie ein Donnerschlag, und von regem Geist wie sie war, stieg in ihr jählings der furchtbare Gedanke auf, daß dieser Tod ihrem frevlem Wunsch gefolgt und sie die Ursache sei. Ein heftiger Weinkrampf überfiel sie, der noch am nämlichen Abend in ein hitziges lebensgefährliches Fieber ausartete und sie Monate lang an ihr Lager fesselte. Ihr Vater kam in der Zeit, sie zu besuchen, und zum ersten Mal verlangte sie nach ihrer Stiefmutter. Sabine lag aber selber, durch den Tod des Kindes furchtbar erschüttert und angegriffen, auf dem Krankenbett und konnte nicht zu ihr eilen, und einsam, von fremden Leuten gepflegt, verbrachte Lisbeth die lange traurige Zeit.
Ihre jugendlich kräftige Natur erholte sich endlich wieder, aber das nicht allein, nein, mit der Krankheit hatte sie auch noch einen anderen, schlimmeren Feind abgeschüttelt, der sie und Andere bis dahin elend, unglücklich gemacht. Es war das Vorurtheil gegen die Stiefmutter, das bis jetzt ihr sonst gutes Herz umnachtet gehalten. Noch nie hatte ihr Sabine ein böses, wenigstens ein ungerechtes Wort gesagt, noch nichts Anderes ihr wie Liebes und Gutes, mit einer Engelsgeduld erwiesen, und wie hatte sie selber ihr nun das gedankt? – Alles, Alles war vergebens, und Liebe und Aufopferung an sie verschwendet gewesen, nur des Phantoms wegen, das in ihr die Stiefmutter gesehen, und die Augen hätte sie sich jetzt aus dem Kopf weinen mögen, wenn sie daran zurückdachte, was sie gethan und wie sie sich betragen. Andere Menschen trugen wohl mit ihr große Schuld, und hatten, vielleicht mit selbstsüchtigen Absichten, vielleicht aus Unwissenheit, den bösen Samen noch gepflegt und genährt, den sie mit der Wurzel hätten ausreißen und vernichten sollen. Aber sie selber machte sich doch die bittersten Vorwürfe, mit Absicht blind gegen Alles gewesen zu sein, was ihr die Stiefmutter Gutes gethan und womit sie gestrebt, sich ihre Liebe zu erwerben. Sie sehnte sich danach, das endlich zu sühnen, endlich ihr Alles, Alles zu gestehen und – wenn das möglich sei – ihre Verzeihung zu erlangen.
Diese Sehnsucht gab ihr Kräfte und beschleunigte ihre Genesung, und noch ehe der Arzt ihr volle Erlaubniß ertheilt, das Krankenzimmer verfassen zu dürfen und eine Reise zu unternehmen, flog sie mit dem Bahnzug ihrer Heimath wieder zu.
Eine eigene Angst überkam sie, als ihr Wagen vor dem väterlichen Hause hielt und Niemand herbeieilte, sie zu bewillkommnen. Todtenstille herrschte im Haus, und nur ein paar fremde Frauen kreuzten mit heimlicher Geschäftigkeit die Hausflur und nahmen nicht die geringste Notiz von ihr. Sie eilte die Treppe hinauf, die zu den Zimmern der Stiefmutter führte und begegnete hier dem Arzt. Dieser, der sie erkannte, bat sie, sich zu fassen, und verkündete
Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 635. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_635.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)